Foto: „Mazeltov, Rachel’e“ hier mit Dalia Schaechter © Paul Leclaire
Text:Klaus Kalchschmid, am 7. Juni 2021
„Meys un Toit/Guck er schmeichelt/Wie seyn Oigelech/Scheyn er effnet“: Es ist der großartige, zu Tränen rührende Höhepunkt der „musikalischen Farce“ von Christian von Götz, wenn nach durchfeierter Pessach-Nacht der Regieassistent Joseph auf dem Radl Coffee to go bringt und die alte Lea Isoldes Liebestod singt – auf Jiddisch. Die große, in Israel geborene Dalia Schaechter, seit zwei Jahrzehnten Ensemblemitglied der Kölner Oper und nicht nur als Wagner-Sängerin, sondern zuletzt auch mit einer eigenen Reihe jüdischer Liederabende gefeiert, hatte zuvor im Traum zu Pessach ihre Ahnen zu Gast. Da spielte sie mit großem Federboa-Kopfschmuck im elegant gemusterten großen Schwarzen ihre eigene Ururgroßmutter mit jeder Faser ihres Körpers und sang sie mit allen Schattierungen eines immer noch schwer beeindruckenden Mezzos, der freilich auch greinen und girren, krächzen und ganz undamenhaft lustvoll stöhnen kann.
Am Morgen aber setzt sie sich, noch bevor zwei Aspirin gegen den Alkohol der Nacht eingeworfen sind, einfach einen Topf auf, von dem links und rechts das Handtuch baumelt wie Zöpfe, und hebt mit verblüffend magischer, lupenreiner Stimme an. Dazu fiedeln und blasen sieben Mitglieder des Kölner Gürzenich-Orchesters mit einem tief berührenden Charme und einer bezaubernden Wehmut, bis schließlich der berühmte Vorhalt des Schlussakkords zur Blue Note einer Klezmer-Klarinette gerinnt.
Tränen gab es auch zuvor nicht selten, nicht aber die der Melancholie, sondern die des Lachens. Denn Christian von Götz hat sich auf die Spuren des Yiddish Broadway in New York gemacht und passt nun anlässlich des Jubiläums „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ seine Archiv-Funde in einen prall-bunten, kein Klischee scheuenden szenischen Liederabend ein. Dafür übersetzt er das amerikanisch gefärbte Yiddish in ein für deutsche Hörer besser verständliches Jiddisch und wandelt dabei manche Texte auch ab. Auf Seitentiteln kann zusätzlich die wörtliche deutsche Übersetzung verfolgt werden.
„Mazeltov, Rachel’e“ spielt an Pessach, dem wichtigsten (Familien-)Fest im Judentum, das an den Auszug aus Ägypten erinnert, und ist hier eine große nächtliche Sause. Denn wer da alles der alt und lungenkrank gewordenen Lea Singer, der noch ein Jahr zu leben bleibt, im Traum erscheint, ist nicht immer so stumm und dezent und zart wie die tanzende Verena Hierholzer als junge Lea. Wer da mit wem verheiratet, verliebt oder von wem wann wo und wie verführt wurde, diese ganze verwirrende Familiengeschichte strotzt nur vor Untiefen, Streitpotenzial und erotischen Anspielungen. Sie kostet Dalia Schaechter mit viel Selbstironie als herrliche Rampensau genüsslich aus. Aber auch Dustin Drosdziok als Geiger Leyser Janowski, Stefan Hadžić als Schächter Israel Teitelbaum wie aus dem Splatterfilm, die tütelige Uroma Gisse (Claudia Rohrbach) oder gar Abraham Goldfaden (1840-1908), berühmter jüdischer Komponist einer „Sulamith“ (dargestellt von Matthias Hoffmann, der als junger Regieassistent Joseph kaum wiederzuerkennen ist) sind mit viel Schminke, Perücken, angeklebten Bärten und in mehr oder minder schrillen und überhaupt nicht politisch korrekten Kostümen (Ausstattung: Pascal Seibicke) manchmal die herrliche Parodie ihrer selbst.
Außer Leo Fall mit einer Nummer aus seiner „Madame Pompadour“ sind wohl die wenigsten Komponisten des kurzweiligen Abends heutigen deutschen Hörern ein Begriff. Als das sind Reuben Doctor, Louis Friedsel, Alexander Olshanetsky, Solomon Smulewitz, Joseph Tanzman, Louis Gilrod, David Meyerowitz, Michael Krasznay-Krausz, Herman Wohl, Zigmund Mogulescu oder Janot Roskin. Aber ihre Musik zündet auf ganz wunderbare Weise, ist mal voller Schmiss, mal erfüllt von jiddischer Melancholie. Die 23 Nummern, von Ralf Soiron raffiniert arrangiert und instrumentiert, werden manchmal erst rein instrumental gegeben und später gesungen oder auch am Ende wiederholt.
Mit Herzblut, einer gehörigen Portion Frechheit, oder sagen wir lieber Chuzpe, und viel theatralischem Furor präsentieren die fünf Protagonisten solistisch oder im Ensemble diese Lieder und erzählen dabei ganz nebenbei aus ihrem Leben. Dabei wird schon mal virtuos über‘s Mobiliar geturnt zwischen Bad, Wohnzimmer und Küchenzeile, dessen Kühlschrank immer wieder einen Überraschungsgast im Trockeneisnebel ausspuckt. Und wenn der ein oder andere Regieeinfall zum Running Gag wird, kommt auch der Slapstick nicht zu kurz.