Foto: Vom Fenster aus schaut Prinz Heinrich zu: Im Hof des ehemaligen Gefängnistraktes einer Marine-Kaserne in Kiel wird die Hinrichtung der „Rädelsführer“ zweier meuternder Matrosen nachgespielt © Olaf Struck
Text:Jens Fischer, am 2. Dezember 2018
Schlechte Ernährung, standesdünkelige Schikanen der Chefs, unbändige Friedenssehnsucht und zäher Überlebenswille – machten 1918 Mut zur Befehlsverweigerung. Der revolutionäre Zündfunke erglühte in Wilhelmshaven gerade, als Heizer das „Feuer aus den Kesseln“ der Kriegsschiffe nahmen, um das Auslaufen zu einem ehrpusseligen Selbstmordkommando zu verhindern. Das hat Regisseur Michael Uhl mit Ernst Tollers expressivem Theaterstück an der Landesbühne Nord inszeniert und gleich noch ein interaktives Hörspiel dazu spendiert, das Stadtbummelanten unter Kopfhörern an Orten des Aufbegehrens mit den Perspektiven der Beteiligten vertraut macht. Da die als Vaterlandsverräter und Bolschewiken beschimpften Matrosen nach Kiel abkommandiert wurden, kochte der Widerstand dort dank Arbeiter- und Soldatenzulauf zum Aufstand hoch. Dessen Ideen von Frieden, Demokratie, Pressefreiheit und Frauenwahlrecht infizierten rasend schnell Menschenmassen im ganzen Reich. Ratzfatz ist der Kaiser abgesetzt und die Republik ausgerufen. So zog auch Uhl von Wilhelmshaven an die Förde und inszeniert die Fortsetzung der Geschichte: „Neunzehnachtzehn“.
Der heutige Bundesgrünenchef Robert Habeck bereitete gerade seinen Einzug in den Schleswig-Holsteinischen Landtag und damit den Abschied von seinem Schriftstellerleben vor, als er 2008 mit seiner Ehefrau Andrea Paluch die wilden Zeiten auch als Selbstvergewisserung dramatisierte – ein revolutionsidealistischer Künstler verwandelt sich zum pragmatischen Politiker. Uhl besorgte die Uraufführung – und inszeniert das Stück nun zehn Jahre später noch einmal. Denn Kiel feiert sich gerade zum 100. Jahrestag des Matrosenaufstandes als „Geburtstort der Demokratie“. Spurensuche und Aufarbeitung erfolgt in Ausstellungen, mit Publikationen, Vorträgen, Filmen. Nachdem die Oper des Theaters Kiel mit der Uraufführung von Marco Tutinos „Falscher Verrat“ das Thema kitschselig verweigert, die Historie als bunte Hintergrundfolie und die konkreten revolutionären Erregungsthemen nur als Aufputschmittel für eine klischeesatt amouröse Dreiecksgeschichte genutzt hatte, kann das Schauspiel die Bühnenehre retten.
Anstatt die Uraufführung zu reanimieren, weitet Uhl das Stück zur „Reise durch das revolutionäre Kiel“. Die Besucher müssen sich am Einlass des Marine-Kasernengeländes, heute Museum und Geflüchtetenunterkunft, entscheiden, ob sie den Abend als Matrosen, Arbeiter oder Offiziere erleben wollen. Die Proletarier bekommen eine rote Lampe und werden ihre ganz eigenen Szenen erleben, ich nehme die blaue der militärischen Führungskaste. Ihre perfekt uniformierten und weiß behandschuhten Darsteller führen über die Adalbertstraße, benannt nach dem Marinekommandanten und Kaisersohn Adalbert von Preußen, und schwärmen im chronischen Brülltonfall anhand von Kriegsschiffquartettkarten von ihrer Flotte. Erklären ihren Auftrag im Sinne der imperialistischen Großmannssucht. Kein Wunder, dass sie im chorischen Gesang auch jubelnd die Kriegserklärung des Kaisers intonieren. „Es geht gegen England! Hurra!! Hurra!!! Hurra!!!!“ Tür auf zum einstigen Gefängnistrakt. In den engen Korridoren des leerstehend vor sich hinblätternden Gebäudes wird der Stumpfsinn des Wartens thematisiert. Da die deutsche Hochseeflotte der englischen deutlich unterlegen war, ließ der Kaiser sie gefechtsbereit, aber tatenlos auf Rede vor Wilhelmshaven liegen. Zu sehen sind in den Zimmerzellen nun begehbare Installationen und lebende Bilder. Trübsinnig spielt ein Admiral mit Spielzeugschiffen, eines ist in einer Badewanne untergegangen. Andernorts künden leere Sektflaschen von Gelagen, während ein Werbeplakat die neue Generation mörderischer Geschosse preist. Per Audiozuspielung ist zu hören, wie Matrosen über zu schlechtes und zu wenig Essen klagen, dazu werden die Speise- und Weinkartekarten der Offiziere verlesen. Ein prima Prolog ist dieses Raum-Klang-Erlebnis, aber leider ist es viel zu voll, viel zu wenig Zeit und viel zu kalt, um sich darauf einlassen können.
Auf der Treppe zum Ausgang begegnen sich die Besuchergruppen. Matrosen beschimpfen die Offiziere, diese höhnen über die Matrosen. Ab und an konfrontiert Uhl die Beteiligten, ermöglicht aber leider keinen Rollentausch der Besucher. Einmal Offizier – den ganzen Abend über Offizier. Als solcher wird einem schließlich der Missmut gegenüber den anstehenden Waffenstillstandsverhandlungen erklärt. Lieber „ehrenvoll die letzten 2.000 Schuss gegen England abgeben und untergehen“, als Kriegsschuld und -niederlage akzeptieren, heißt es im Flüsterton. Ein Geheimbefehl wird verteilt. Dann die Nachricht vom Feuer aus den Kesseln. Auf nach Kiel, so die neue Losung. Mit einem Bus geht es zur ehemaligen Marine-Kommandantur, wo heute die Oberfinanzdirektion durchrenoviert. Beizuwohnen ist einer Debatte, wie den Revoluzzern zu begegnen sei. Zugeschaltet sind sie per Videoüberwachungs-Stream aus dem ehemaligen und immer noch genutzten Gewerkschaftshaus. Und weiter geht’s bei der Stadterlebnisrundfahrt. Mit Lichtblitzen der Taschenlampen wird in der Feldstraße, nahe der einstigen Arrestanstalt, gegen die Besuchergruppe der Proletarier „geschossen“.
Schluss mit der Spielerei und hinein in eine Maschinenhalle der Marine. Der Klassengegensätze und Aufruhrstimmung zum Trotz dürfen alle Besucher gemeinsam Glühwein nippen, bevor sie einander gegenüber platziert werden. Dazwischen ein riesiger Verhandlungstisch (Ausstattung: Thomas Rump). Nun hebt das Stück von Habeck und Paluch an. „Wir sind hier in Deutschland, hier gibt es keine Revolution“, lautet die Ansage zum Untertanengeist. Es folgt die politische Auseinandersetzung als Beweis des Gegenteils. Ein Machtkampf. Der kerlige USPDler Fritz Kemp (Rudi Hindenburg), dem historischen Karl Artelt nachgebildet, gesellt sich zu seinesgleichen und bölkt seine Forderungen genauso wie die Offiziere ihre Befehle. Der aus Berlin abgesandte SPDler Gustav Noske (Zacharias Preen) platziert sich bei den Offizieren. Radikaler Heißsporn, der die alte Elite töten will, um neue sozialistische Verhältnisse schaffen zu können vs. kaltherziger Machtmensch, der die Unruhen anführen, disziplinieren, befrieden möchte und dabei die eigenen Interessen und die seiner Partei streng im Blick hat.
Habeck hat Noske das eigene Problem der Politikerwerdung eingepflanzt. Ja, sagt Noske im Stück, Kemp habe Recht mit der Anklage gegen die unheilvolle Verknüpfung von Kapital und Krieg, den Fehlern der SPD und Marine. Aber das Volk sei eine „träge, dumme, gefährliche Masse“ – brechtisch hätte er auch „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ anstimmen können. Da die Menschen hungerten, so Noske, könne man nicht Kapitalisten, Adel, Militärs erschießen und das Chaos befördern, sondern müsse es strukturieren, öffentliche Sicherheit wiederherstellen und im Schulterschluss ganz Deutschland sozialdemokratisieren. Die reine Lehre eines Idealismus führe in totalitäre Strukturen, der Kompromiss in die Demokratie. Während bei Habeck diese Position anfangs sehr positiv angelegt ist, macht Uhl von Beginn an deutlich, wohin Noskes Reise geht. Unsympathisch abweisend, arrogant bis autoritär lässt er ihn spielen – und spendiert die Quittung. Die mögliche Tragik der Kompromisse. Gerade hat Noske zwei Offiziere begnadigt und ihnen die Waffen zurückgegeben – da erschießen sie Kemp samt Freundin. Schließlich ist Noske in die Geschichtsbücher auch als „Bluthund“ eigegangen, der mit ultrarechten Freikorps den Spartakistenaufstand niedermetzeln ließ – und den roten Funken endgültig austrat. Später entfremdeten alte Machteliten und neue Rechte die Demokratieeuphorie zu nationalsozialistischem Jubel. War die Revolution nicht radikal genug?
„Neunzehnachtzehn“ bietet unterhaltsamen theatralen Geschichtsunterricht. In dem Thesen beispielhaft vorgeführt, nicht die Geschehnisse kammerspielartig verdichtet werden. Die Schauspieler geben keine lebendig differenzierten Figuren, sondern sind im exemplarischen Disput ausgestellte Prototypen ihrer Positionen. Aber immerhin schimmert auch das Motto der Kieler 1918er-Feierei durch, also die Frage, was die Errungenschaften der Novemberrevolution heute noch bedeuten und wie sie gefährdet sind: „Kiel steht auf für Demokratie“. Denn „Neunzehnachtzehn“ ist gegen Kemp – ein unbeirrtes Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit.