Zunächst aber, als Süheyla Ünlü im wehenden Satin-Morgenmantel auftritt, ist die Bühne groß und leer und die titelgebende Villa bis auf den Grundriss verschwunden. Hat etwa jemand, der einbrechen wollte, in Brechtscher Dialektik gleich die ganze Villa geklaut? Ist dieser Jemand vielleicht der 14köpfige Jungmädchen-Chor, der bald den Raum bevölkert und gestylt wie New-Mexiko-Cowgirls aus einem Italo-Western in die Debatte eingreift. Die Chor-Truppe, darunter auch das heuer leider arbeitslose Nürnberger Christkind Benigna Munsi, versteht sich allerdings nicht als Kommentator in der antiken Tradition, sondern als vielköpfiger Einzelakteur, der das dramaturgische Ideal der Rollendistanzierung und Rollendifferenzierung vorführt. Er kann gleichzeitig stehen und liegen, er kann nach rechts vorne und nach links hinten gehen, er kann in die Figur eines Museumsführers oder eines enttäuschten Liebhabers schlüpfen, er kann die ästhetischen Rituale des Mannschaftssports vorführen oder auch mal ganz banal eine Karaoke-Version von dem Rolling-Stones-Hit „As Tears Go By“ vorsingen („It is the evening of the day / I sit and watch the children play“). Vor allem aber kann der Chor aus den bereitstehenden Einzelteilen die Villa wieder aufbauen und mit dieser Heimwerker-Montage die Arbeitsweise des Dramatikers und Regisseurs Pollesch verdeutlichen.
Dieser füttert sein Ensemble in der Probenzeit mit vielfältigen Textbausteinen, die dann – wenn denn alles funktioniert – am Ende ein anregendes und möglicherweise stimmiges Gesamtbild ergeben. Der auch in der Aufführung gesprochene Leitsatz lautet „eben ging mir gerade was durch den Kopf“, erinnernd an die Kleistsche Maxime von der Verfertigung der Gedanken beim Reden. Und im Kopf des René Pollesch lauern viele originelle Gedanken und Lesefrüchte. Das mögen Insider-Gags aus der Schauspiel-Szene sein, das dürfen gerne auch Theorien von Brecht und Foucault oder Ergebnisse der Quantenmechanik sein, nicht zu vergessen die reichen Bestände des modernen Wortmülls, der in allen Medien zur Bedienung freigegeben wird. Daraus wird dann postdramatisches Assoziations- oder Diskurstheater, kreatives Gedankenspiel ganz in der Tradition der bekannten Sprach-Wirrologen Jelinek, Handke oder Marthaler.
Einmal sagt ein Schauspieler vom Balkon der Villa herab, es sei wichtig, dass ein Endprodukt wertvoller sein müsse als sein dafür verbrauchter Rohstoff. Dies ist bei der Nürnberger Inszenierung vortrefflich gelungen, denn die sehr diversen Textstränge fügen sich zu einem fast poetischen Ganzen, das zwar keine Antworten gibt, aber ganz viele originelle Fragen stellt. Selbst wenn man bei manchen verrätselten Passagen nur begrenzt folgen kann, bleibt ein berührender Eindruck von dem, was Theater alles noch kann.
Am Ende wird die Villa leider wieder abgebaut, werden die Einzelteile im hinteren Bühnenraum vom Chor sorgfältig abgestellt, dann senkt sich ein Vorhang. Demonstrativer Beifall der 50 zugelassenen Besucher. Hoffentlich können die Bauteile ab dem Dezember wieder ausgepackt werden!