Foto: Umgestürzte Koffer im "Pera Palas" - mit Simone Mende (Adalet), Katharina Wilberg (Neyime), Michaela Allendorf (Evelyn Crawley), Emma Henrici (Melek), im Hintergrund: Jonas Kling (Cavid) und Joëlle Rose Benhamou (Bedia). © Jochen Quast
Text:Jens Fischer, am 16. Februar 2020
Orientalischer Schnickschnack, historischer Fahrstuhl, marmorne Treppe, prachtvoll plüschige, samtig rote Interieurs. Das Pera Palas war als Grand Hotel im neoklassisch-jugendstilistischen Mix für die aus Paris mit dem Orientexpress nach Istanbul gereisten Europäer erbaut worden, die einen prunkvollen Rückzugsort suchten, bevor sie sich aufmachten ins angebliche Märchenreich der Derwische und Sultane, Hammans und Harems. In der Luxusherberge trafen sich Orient und Okzident – Monarchen, Politiker, Industrielle, Künstler. Heute ist es ein Museumshotel – mit Grata-Garbo-Eckzimmer und Ernest-Hemingway-Suite. Der hatte in den 1920er Jahren den Wandel der Türkei vom mittelalterlich islamischen Kalifat zur westlich-säkularen Republik beschreiben wollen. Auch dem dafür verantwortlichen Mustafa Kemal Atatürk ist im Pera Palas ein Zimmer gewidmet. Also ein idealer Ort, um die gesellschaftlichen Um- und Aufbrüche des Landes vom Ersten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre zu erzählen. Drei einander kommentierende Handlungsstränge hat Sinan Ünel elegant zu seiner Familiensaga „Pera Palas“ verwoben. Bettina Rehm brachte sie am TfN in Hildesheim zur Premiere. Mit türkischen O-Tönen geschmückt, um auch ein entsprechendes Publikum anzusprechen. Und mit dem Anspruch, politisch aktuell etwas über den konservativ-islamischen Rollback alla Turca zu erzählen.
Ausgangspunkt könnte der dritte Akt sein. Der mit der US-Amerikanerin Kathy verheiratete, progressiv westlich denkende Geschäftsmann Orhan sagt, ihm drohe Gefängnis. Ohne dass genau klar wird, warum. Ein Regimekritiker? Deutlich politisch ist jedenfalls seine Sicht der Türkei. „Überall werden die Reichen reicher und die Armen ärmer. Wir stehen in einer unüberwindlichen Schuld. Schlimmer noch, wir werden von dem Erscheinen einer islamischen Elite geplagt. Den Fundamentalisten“, sagt er, „als wären die Geister aus den Gräbern auferstanden. Sie wollen den Religionsunterricht in den Schulen wieder einführen. Sie wollen die Theater schließen und die Bilder von Atatürk abhängen.“ Geschrieben wurde das Stück 1995, in New York 1998 uraufgeführt, angesiedelt ist die Szene im Jahr 1994, in dem der heutige türkische Sultan Recep Tayyip Erdoğan zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde und seinen reaktionären, nationalistischen Feldzug wider demokratische, rechtsstaatliche, laizistische Standards starten konnte. Für diese Koinzidenz wird das Werk als prophetisch gehandelt.
Aber viel mehr als die zitierten Sätze ist dem Text nicht zu Erdoğan zu entlocken – in der Figur des Orhan aber tiefe Verunsicherung deutlich. Heimatverlorenheit. Was in der Begegnung mit dem verlorenen Sohn Murat deutlich wird. Der ist schwul, lebt in den USA, kommt mit seinem Freund vorbei. Orhan gibt sich aufgeklärt, tolerant. In die Dialoge eingeschrieben ist aber der Schmerz, dass Murat nicht dem traditionellen Männerbild entspricht. Eine „Blamage“ nennt Orhan seinen Sohn, „ich wünschte, ich wäre nicht mal mit dir verwandt.“ Und zeigt so, dass seine liberale Identität nur eine meist mühsam gewahrte Maske ist. Parallel lässt Rehm eine Szene aus seinen 1950er-Jugendjahren spielen, in der Orhan ein Job in einem US-Unternehmen versagt wird, weil er Türke ist – und daraus den Schluss zieht, nie gleichberechtigt mit Menschen der westlichen Kultur zu sein. Weswegen er seine türkischen Wurzeln weiter wuchern lässt. Daraus könnte ein aktuelles Statement abgleitet werden. Dass die gesellschaftliche Öffnung Atatürks eben eine Entfremdung war, etwas Übergestülptes, das nicht der Bevölkerung erwuchs. Sie nicht mitgenommen, ihr Denken vielfach nicht im Grundsatz verändert wurde. Sodass Werte, Verhaltensmuster und osmanisches Großmachtsdenken von einst überlebte. Aber das herauszuarbeiten, gelingt der Regie nicht. Gerade auch weil die Figur des Orhan, durch die der Riss des Landes, der Geschichte geht, sowohl in der Jugend- wie Seniorausgabe so bollerig boulevardesk gespielt wird, dass er als Beispiel der Verlorenheit eines zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Landes nicht funktioniert. Wie leider die ganze Aufführung mit ihrem betulichen Tempo, der implantierten Wehmutsmusik und -poesie, ziemlich statischer Regie und großenteils holzschnittartig klischeehaften Rollengestaltungen enttäuscht. Die Bühne Julia Hattsteins nimmt kaum Bezug auf das Pera Palas, ist wegen Unbehaustheit des Personals mit einer lockeren Schüttung an Koffern hergerichtet, die mal gestapelt, um wütend umgeschmissen zu werden, auch als Sitzmöbel funktionieren.
Die Stück funktioniert hingegen prima als Geschichtsunterricht und Feier des Vermächtnisses Atatürks. In den 1918 bis 1924 angesiedelten Szenen ist zu erleben, wie eine Feministin junge Frauen im Harem eines Paschas vom selbstbestimmten Leben überzeugen, gleichzeitig aber auch die türkische Kultur nicht verdammen, sondern aus sich heraus verstehen will. Beides erfolglos. Die 1950er-Jahre-Szenen erzählen von verfestigten Vorurteilen älterer Türken gegen Schweinefleisch essende „Ungläubige“ und verfestigten Vorurteilen junger Westler gegen die „stinkende Hölle“ der Moslems sowie der naiven US-Lehrerin Kathy, die ihrem biederen Alltag entkommen und mit dem Amerika-fixierten Orhan als orientalischem Liebhaber ein Leben in 1001 Nacht und westlicher Zivilisation erhofft. Was scheitert. In den 1990er Jahren gibt es nur noch haltlose Menschen, sie saufen, schreien, verzweifeln, resignieren. Das ist dann vielleicht der Humus, auf dem Erdoğans Macht wucherte.