Foto: © Marco Piecuch
Text:Rainer Nolden, am 11. Oktober 2024
Wie ein Stück aus dem wirklichen Leben: Kim Langner inszeniert „Big Mother“ der französischen Autorin Mélody Mourey als deutschsprachige Erstaufführung in Trier.
Über sieben Bildschirme flackern in Endlosschleife die „Breaking News“ zum Stand der Präsidentschaftswahl in den USA. Da taucht unvermittelt ein kompromittierendes Sex-Video über den amtierenden Präsidenten auf, was dessen Wiederwahl gefährdet und der vom Millionär Howard Mercer gegründeten Partei „Total Democracy“ einen ungeahnten Aufwind beschert. Bei seinen Recherchen stellt das Journalistenteam des „New York Investigator“ fest, dass es sich bei dem Video um ein „deep fake“ handelt. Die naheliegende Frage: Wer hat es ins Netz gestellt, und wem nützt es?
Der Polit-Skandal wird verwirbelt mit einer privaten Tragödie: Die Journalistin Julia Robinson begegnet bei einer Gerichtsverhandlung ihrem Ex-Freund Ethan Brown, der vor vier Jahren angeblich bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen ist. Bei ihren Nachforschungen findet sie heraus, dass auch Brown in das verwirrende Netz aus Macht, Manipulation und Misinformation verstrickt ist. Mit ihren weiteren Recherchen bringt sie sich sowie ihre Kollegen in Lebensgefahr – vor allem, als sie aufdecken, dass „Big Mother“ der Ursprung aller Täuschungen ist.
Thriller Theaterstück
So heißt, in Anspielung auf George Orwell, das unheimliche Manipulationsprogramm, das das Leben der Menschen steuert. Es ist der Titel von Mélody Moureys als „Thriller“ kategorisiertem Theaterstück, dessen deutschsprachige Erstaufführung Kim Langner in Trier als rasant geschnittenen, filmischen Parforceritt inszeniert. Nicht nur das Publikum muss dabei mit größter Konzentration dem Geschehen folgen, um die Zusammenhänge durchschauen zu können; auch von den Akteuren werden Höchstleistungen verlangt, müssen sie doch – bis Joana Tscheinig als Julia, die zwischen aggressiver Journalistin und unglücklich Verlassenen ihre Gefühle zwischen Chuzpe und Resignation bravourös bewältigt – in bis zu sieben Rollen schlüpfen. Da bleibt im Malstrom der Ereignisse und in der Hektik des Spiels mitunter der Durchblick auf der Strecke – sowie, bedingt durch die räumlichen Bedingungen des Aufführungsortes (in der Europäischen Kunstakademie wenden die Akteure einem Teil des Publikums immer den Rücken zu) auch das akustische Verständnis.
Jan Walter als Alex Cook und Joana Tscheinig als Julia Robinson. Foto: Marco Piecuch
Die Figurenentwicklung
Die Figurenzeichnung ist nicht frei von Klischees, vor allem, was die Journalisten angeht: Da ist der stets aufbrausende Chefredakteur Owen Green (Thomas Jansen), der übereifrige Jungreporter Alex Cook (Jan Walter), dessen Vater zu allem Überfluss der Herausgeber des „New York Investigator“ ist und der sich mit Vorwürfen der Vetternwirtschaft ausgesetzt sieht, die servile Sekretärin Mona (Carolin Freund in nur einer ihrer insgesamt vier Rollen) und der aalglatte „Total-Democracy“-Gründer und frisch gewählte Präsident, dem Raphael Christoph Grosch genau die aalglatte Schmierigkeit verleiht, die man von derlei Figuren im Polit- und Medienbetrieb erwartet. Jana Auburger toppt deren Wandlungsfähigkeit in insgesamt sieben Rollen. Die punktgenau gesetzten Videoclips stammen von Rebecca Ter Braak.
Eigentlich müsste einem Angst und bange werden nach der letzten Szene von „Big Mother“. Aber vermutlich glauben wir immer noch, dass es so schlimm schon nicht kommen wird. Schließlich „haben wir ja nichts zu verbergen“ – ein Satz, der von den Schauspielern und Schauspielerinnen geradezu mantrahaft wiederholt wird.