Foto: Wer zuerst tict, verliert - Benjamin Jürgens, Barbara Morgenstern, Christian Hempel © Robert Schittko
Text:Jens Fischer, am 7. Mai 2020
Gerade jetzt, wo menschliche Kontakte auf die Kernfamilie reduziert sind, funktioniert das Theater als Sehnsuchtsraum in der „Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn“-Produktion von Helgard Haug (Konzept, Text, Regie), einer der Rimini-Protokollanten. Angeboten wird ein wie üblich voraussetzungslos wahrzunehmender Abend, an dem die ins Spotlight gerückten Experten des Alltags ihre autobiographischen Erzählungen darbieten und dabei die Regeln und Voraussetzungen der Inszenierung offenlegen. In diesem Fall geht es um Menschen mit Tourette. Die Koproduktion mit dem Künstlerhaus Mousonturm und dem Schauspiel in Frankfurt wurde zum Theatertreffen eingeladen und ihre Online-Präsentation hätte kaum besser platziert werden können als in unserer Isolationszeit mit dem geheiligten 11. Gebot: Du sollst Abstand halten.
Eine Spannung erzeugende, anstrengende Irritation ist schon vor dem ersten gesprochenen Wort präsent. Benjamin Jürgens, von Beruf Altenpflegefachkraft, ist bereits beim Eintrudeln des Publikums verhaltensauffällig über die Mikroportanlage zu hören. Ein unvorhersehbar hüstelnder, schnalzender, pfeifender, kieksender, miauender, den Kopf zur Seite kippender, mit den Armen zuckender Mann. „Wir geben dem Symptom eine Bühne“, sagt Musikerin Barbara Morgenstern, die angenehm beiläufig den Abend moderiert. „Dort draußen bin ich eine Störung, hier drinnen bin ich eine Attraktion“, wissen die Performer ihrer selbst im Kontext dieses Theaterabends. Durch die Lücken der eigenen Sprache toben immer wieder unwillkürlich fremde Worte und Wortfolgen. Unmöglich ist es daher, mit Tourette nicht aufzufallen. Hintergedanken präsentieren sich rampensäuisch. Ausfällig, beleidigend. „Du Arsch, geile Maus, Heil Hitler, halt‘s Maul“, ist auf der Bühne zu hören. Weil Tourette macht, was es will. Die Folge ist eine Art Doppelleben. Wenn Kinder fragen, was los sei, erklärt Jürgens: „Ich habe einen Kasper im Kopf, der ärgert mich.“
Die Nervenkrankheit Tourette äußert sich in spontanen Geräuschen, Wortäußerungen oder Bewegungen, die der Betroffene Tics nennt. „Sie sind Reaktionen auf die Welt, in der er sich bewegt. Das Tourette-Syndrom sucht die Öffentlichkeit, es will Konfrontation und Aufsehen erregen“, so Haug. Wissenschaftlicherseits heißt es, bestimmte Regelkreise im Gehirn seien dauerhaft gestört und es existiere ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter, so dass Sprech- und Handlungsimpulse nicht gehemmt werden könnten. Wie genau die Tics zustande kommen, ist immer noch ungeklärt. Heilen lassen sie sich bis heute nicht. Weswegen physische Unbeherrschtheit und verbale Entgleisungen fortgesetzt zur sozialen Ausgrenzung führen.
Selbstironisch erzählen Benjamin Jürgens, Mediengestalter Christian Hempel und der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger vom Alltag mit Tourette. Auch von der dazugehörenden Angst vor einem Zuviel an menschlichem Miteinander, Konventionen, Reizen, Zwängen. Hempel liest eine Anklageschrift der Nachbarn vor, die ihm das Jugendamt auf den Hals hetzen wollen. Jürgens zeigt, was für eine Schweiß treibende, den Puls erhöhende, die Mimik verkrampfende Anstrengung es ist, Tics mal kurzfristig zu unterdrücken. Findet aber auch einen kreativen Umgang damit, indem er aus den Zuckungen ein Körpertrommelsolo entwickelt. Und besteht darauf, während der Aufführung zur Beruhigung Cannabis zu inhalieren. Wer zuerst tict, hat verloren – das ist eines der praktizierten Spiele. Hempel und Jürgens triggern sich also an, bis einer die Façon verliert. Es wird getanzt und Musik gemacht. Kaffenberger hält eine Rede und bezeichnet die sprachlichen Enthemmungen der AfD-Landtagsfraktion als „Parlaments-Tourette“.
In der technisch guten Aufzeichnung aus der Frankfurter Premierenspielstätte Bockenheimer Depot kommt leider das Publikum als stumm bewegter Dialogpartner nicht ins Bild. Ob sich während der Live-Begegnung die anfänglichen Beklemmungen, Unsicherheiten und angestauten Neugierregungen entspannen können? Finden Zuschauer einen Umgang mit dem Unvorhersehbaren, dem ständigen Kontrollverlust der Protagonisten? Fürs System Theater wird der Störfaktor zur Inspiration einer locker strukturierten Form. Bei mir als Videogucker erwächst aus der Befremdlichkeit schnell ein Gefühl von Nähe, wie sich Menschen mit und ohne Tourette aufeinander einlassen könnten. So funktioniert Dokumentar- als Inklusionstheater. Eine wirklich bemerkenswerte Produktion, die beim Theatertreffen nicht fehlen durfte.