Die Nervenkrankheit Tourette äußert sich in spontanen Geräuschen, Wortäußerungen oder Bewegungen, die der Betroffene Tics nennt. „Sie sind Reaktionen auf die Welt, in der er sich bewegt. Das Tourette-Syndrom sucht die Öffentlichkeit, es will Konfrontation und Aufsehen erregen“, so Haug. Wissenschaftlicherseits heißt es, bestimmte Regelkreise im Gehirn seien dauerhaft gestört und es existiere ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter, so dass Sprech- und Handlungsimpulse nicht gehemmt werden könnten. Wie genau die Tics zustande kommen, ist immer noch ungeklärt. Heilen lassen sie sich bis heute nicht. Weswegen physische Unbeherrschtheit und verbale Entgleisungen fortgesetzt zur sozialen Ausgrenzung führen.
Selbstironisch erzählen Benjamin Jürgens, Mediengestalter Christian Hempel und der hessische SPD-Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger vom Alltag mit Tourette. Auch von der dazugehörenden Angst vor einem Zuviel an menschlichem Miteinander, Konventionen, Reizen, Zwängen. Hempel liest eine Anklageschrift der Nachbarn vor, die ihm das Jugendamt auf den Hals hetzen wollen. Jürgens zeigt, was für eine Schweiß treibende, den Puls erhöhende, die Mimik verkrampfende Anstrengung es ist, Tics mal kurzfristig zu unterdrücken. Findet aber auch einen kreativen Umgang damit, indem er aus den Zuckungen ein Körpertrommelsolo entwickelt. Und besteht darauf, während der Aufführung zur Beruhigung Cannabis zu inhalieren. Wer zuerst tict, hat verloren – das ist eines der praktizierten Spiele. Hempel und Jürgens triggern sich also an, bis einer die Façon verliert. Es wird getanzt und Musik gemacht. Kaffenberger hält eine Rede und bezeichnet die sprachlichen Enthemmungen der AfD-Landtagsfraktion als „Parlaments-Tourette“.
In der technisch guten Aufzeichnung aus der Frankfurter Premierenspielstätte Bockenheimer Depot kommt leider das Publikum als stumm bewegter Dialogpartner nicht ins Bild. Ob sich während der Live-Begegnung die anfänglichen Beklemmungen, Unsicherheiten und angestauten Neugierregungen entspannen können? Finden Zuschauer einen Umgang mit dem Unvorhersehbaren, dem ständigen Kontrollverlust der Protagonisten? Fürs System Theater wird der Störfaktor zur Inspiration einer locker strukturierten Form. Bei mir als Videogucker erwächst aus der Befremdlichkeit schnell ein Gefühl von Nähe, wie sich Menschen mit und ohne Tourette aufeinander einlassen könnten. So funktioniert Dokumentar- als Inklusionstheater. Eine wirklich bemerkenswerte Produktion, die beim Theatertreffen nicht fehlen durfte.