Das Ensemble holt „Hamlet“ aber vom hohen Klassikerross aus der Pathos-Ecke und zeigt höchst aktuell eine sich zugrunde richtende Gemeinschaft, die so tut, als wäre alles in Ordnung. Das macht Hamlet rasend – ohnmächtig. Hüller sucht wie ein scheues Kind zwischen Implosion und Explosion nach einer Haltung. Klagt auch vergeblich ihren Wunsch ein, um den Vater trauern und offenlegen zu wollen, was zu seinem Tod geführt hat, also gerade alles falsch läuft. Hamlets Vater tritt übrigens nicht als Geist auf, sondern seine Worte brechen wie in einer spiritistischen Sitzung aus Hüller heraus. Simon zeigt mit leiser Intensität und schöner Klarheit eine aus den Fugen geratene Welt, in der die Titelfigur sich genötigt fühlt, Mittel, Kraft und Wege zu finden, sie wieder einzurenken. Sie verlangt Aufrichtigkeit, also Denken, Sprechen und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Überfordert sich dabei – geradezu paralysierend. Im Videokonferenz-Nachgespräch bejaht Simons, dass er durchaus von idealistischer Jugend wie etwa der Friday-for-Future-Bewegung inspiriert sei bei seiner Fokussierung auf den Stoff.
Sandra Hüller als Ausführende erträgt in ihrer natürlichen Spielkunst, was kein Paradox ist, keine Falschheit und greift zu Empörungsgeschrei, Ohnmachtsgesang, Selbstvergewisserungsflüstern, neugierigem Mutschöpfen, empathischem Nachfragen, ratlosem Flehen und Spaßtanken in der ausgelassenen Freundschaft zu Horatio-Ophelia; Gina Haller vereint beide Figuren zu einer, die gern als ironisches Double Hamlets daherkommt. Dass er in der Theaterpause allein auf der Bühne bleibt, unterschlägt die TV-Fassung, „er ist allein“, heißt es leitmotivisch aber immer wieder auch im Film. Hüller-Hamlet greift in der Verzweiflung zudem auf Zitate aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ zurück: „Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehn kein Schmerz kein Gedanke.“ Das final um sich greifende Vergiften und Erstechen wird nur noch erzählt, der Auftritt des Fortinbras kein erlösender. So besticht die Inszenierung auch in der TV-Fassung mit sowohl inhaltlicher wie ästhetischer Konsequenz. Dass kein Zuschauer zum Klatschen da ist, macht dann auch irgendwie Sinn. Schließlich müssen wir alle gerade die Welt retten…
Zum Vergleich: Hier geht es zu unserer (Live-)Premierenkritik der Bochumer „Hamlet“-Inszenierung.