Foto: Stets zwischen Implosion und Explosion: Sandra Hüller als suchender Hamlet © JU Bochum
Text:Jens Fischer, am 2. Mai 2020
Eine Theaterkritiker-Jury hat in den vergangenen 66 Wochen 432 Inszenierungen in 56 deutschsprachigen Städten besucht und „zehn bemerkenswerte“ Produktionen für das Theatertreffen 2020 ausgewählt. Die 57. Veranstaltung dieser Art eröffnete jetzt erstmals nicht als exklusive Veranstaltung für wenige Ticketbesitzer in Berlin, sondern kostenlos online für jedermann. Leiterin Yvonne Büdenhölzer holt einmal tief Luft und artikuliert ein paar kahle Ansprache-Sätze in die Kamera: Ein Ersatz für den verbotenen Live-Veranstaltungsreigen könne das Festival-Fragment im virtuellen Raum nicht sein, aber ein Zeichen für die Unverzichtbarkeit von Kunst und Kultur. Nach 90 Sekunden Eröffnungsrede ist es auf der sehr übersichtlich gestalteten Festspiele-Website dann ein Leichtes, den Stream der ersten ausgewählten Produktion zu starten: Johan Simons‘ zweistündige Inszenierung von Shakespeares „Hamlet“ im Bochumer Schauspielhaus. Zum Glück konnte der Fernsehsender 3sat die zur Feier des analogen Theatertreffens geplante TV-Aufzeichnung gerade noch vor dem Corona-bedingten Abschalten der kulturellen Infrastruktur fertigstellen. Musste die Dreharbeiten aber leider schon unter Ausschluss des Publikums absolvieren. Mit dieser filmisch professionellen Nachinszenierung erlebte das Festival einen würdigen Auftakt.
Der klangrunde Fernsehton wirkt wärmer als die kühle Brillanz der Figuren isolierenden Mikroport-Übertragung der einstigen Live-Darbietungen. Recht konventionell ist die Bildsprache, aber stimmig verortet die Montage aus Nah- und Halbnahaufnahmen, Totalen sowie weitwinkeliger Untersicht die Figuren im abstrakten, offenen Raum von Johannes Schütz, ein weiß ausgeschlagenes Spiel-Bassin oder Manegen-Geviert, über dem der Mond und eine irdische Metallplatte kreiseln können als Verweis auf die endlos scheinende Leere des Universums. Ein Gewinn der Filmfassung ist, dass sich die kammerspielartige Intimität der Aufführung besser vermittelt als im vollbesetzten Schauspielhaus. Gerade das Wechselspiel zwischen den auf der Bühne agierenden Darstellern und den in der ersten Parkettreihe das Geschehen belauernden, auf ihren Einsatz wartenden Kollegen, wirkt etwas besser einsehbar: Es gibt den Spiel- und den Standby-Zustand, auch wer vergessen oder tot ist, bleibt weiterhin da. Verloren geht der TV-Inszenierung ein wenig das grundsätzliche Lebensgefühl Hamlets, da seine Darstellerin Sandra Hüller zu häufig zu groß mit ihrem empfindsamen Spiel im Bild ist, nicht so einsam klein wirkt wie bei den Aufführungen im dreidimensionalen Raum. Was konstitutiv für Simons‘ Inszenierung existenzieller Traurigkeit ist – angesichts der Morde, drumherum gesponnener Lügen und Intrigen, rücksichtsloser Machtgeilheit und ihrer verbrämenden Erklärungen.
Das Ensemble holt „Hamlet“ aber vom hohen Klassikerross aus der Pathos-Ecke und zeigt höchst aktuell eine sich zugrunde richtende Gemeinschaft, die so tut, als wäre alles in Ordnung. Das macht Hamlet rasend – ohnmächtig. Hüller sucht wie ein scheues Kind zwischen Implosion und Explosion nach einer Haltung. Klagt auch vergeblich ihren Wunsch ein, um den Vater trauern und offenlegen zu wollen, was zu seinem Tod geführt hat, also gerade alles falsch läuft. Hamlets Vater tritt übrigens nicht als Geist auf, sondern seine Worte brechen wie in einer spiritistischen Sitzung aus Hüller heraus. Simon zeigt mit leiser Intensität und schöner Klarheit eine aus den Fugen geratene Welt, in der die Titelfigur sich genötigt fühlt, Mittel, Kraft und Wege zu finden, sie wieder einzurenken. Sie verlangt Aufrichtigkeit, also Denken, Sprechen und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Überfordert sich dabei – geradezu paralysierend. Im Videokonferenz-Nachgespräch bejaht Simons, dass er durchaus von idealistischer Jugend wie etwa der Friday-for-Future-Bewegung inspiriert sei bei seiner Fokussierung auf den Stoff.
Sandra Hüller als Ausführende erträgt in ihrer natürlichen Spielkunst, was kein Paradox ist, keine Falschheit und greift zu Empörungsgeschrei, Ohnmachtsgesang, Selbstvergewisserungsflüstern, neugierigem Mutschöpfen, empathischem Nachfragen, ratlosem Flehen und Spaßtanken in der ausgelassenen Freundschaft zu Horatio-Ophelia; Gina Haller vereint beide Figuren zu einer, die gern als ironisches Double Hamlets daherkommt. Dass er in der Theaterpause allein auf der Bühne bleibt, unterschlägt die TV-Fassung, „er ist allein“, heißt es leitmotivisch aber immer wieder auch im Film. Hüller-Hamlet greift in der Verzweiflung zudem auf Zitate aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ zurück: „Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehn kein Schmerz kein Gedanke.“ Das final um sich greifende Vergiften und Erstechen wird nur noch erzählt, der Auftritt des Fortinbras kein erlösender. So besticht die Inszenierung auch in der TV-Fassung mit sowohl inhaltlicher wie ästhetischer Konsequenz. Dass kein Zuschauer zum Klatschen da ist, macht dann auch irgendwie Sinn. Schließlich müssen wir alle gerade die Welt retten…
Zum Vergleich: Hier geht es zu unserer (Live-)Premierenkritik der Bochumer „Hamlet“-Inszenierung.