Wie tanzbar ist der Westfälische Friede?

Anouk van Dijk, Giuseppe Spota, Lillian Stillwell und Marguerite Donlon : Nachbarschaft

Theater:Theater Münster, Premiere:20.10.2023Regie:Lillian Stillwell

Mit mehreren Choreografien soll der Tanzabend „Nachbarschaft“ am Theater Münster von den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden inspiriert sein. Die Bilder bringen eine zusätzliche Aktualität angesichts der Terrorgruppe Hamas und des Kriegs um Palästina und Israel mit sich.

Ob Lillian Stillwell geahnt hat, wie erschreckend nah sie mit ihrem Tanzstück „Oslo“ an die schreckliche Aktualität rückt? Wohl kaum. Die Leiterin der Tanzsparte am Theater Münster suchte mit ihrem Stück ein modernes Äquivalent zum Westfälischen Frieden, dessen Abschluss vor 375 Jahren die Städte Münster und Osnabrück in diesem Jahr gedenken. Dabei kam sie auf den Oslo-Friedensprozess von 1993, der ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina sein sollte. Wie fragil so ein Frieden ist, erleben wir gegenwärtig mit dem Krieg, den die Hamas entfacht hat.

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Abstoßung und Itimität

Diese schreckliche Aktualität konnte Stillwell nicht aufgreifen. Ihr Stück, der dritte Teil des vierteiligen Tanzabends „Nachbarschaft“, spürte mit den Mitteln des Tanzes den Prinzipien der Verhandlungen nach. Zur energiegeladenen Musik „Marimba Spiritual 1 und 2“ von Minoru Miki, kommt ein Mix aus Aggression und Annäherung, der solche Dialoge prägt. Yoh Ebihara und Hera Norin spielen das auf Mann-Frau-Ebene durch. Dabei fließen Bewegungsfolgen mal ineinander und suggerieren Vertrautheit, ja Intimität. Diesen Bewegungen wohnen aber auch Abstoßungskräfte inne, die zeigen, wie Intimität jederzeit in Gewalt umschlagen kann. Der eigentliche Clou aber sind die beiden männlichen Verhandlungsführer Jack Widdowson und Juan Fernando Morales Londoño.

Die Choreografie „Oslo“ von Lillian Stillwell vermittelt Intimität: Hier Hera Norin und Yoh Ebihara. Foto: Bowie Verschuuren

Die beiden erscheinen als echte Alphatiere in Anzügen (Kostüme: Louise Flanagan). Sie agieren erst im eigenen Safespace, markiert durch Lichtkegel, die das Schwarz der Bühne im Kleinen Haus des Theaters Münster durchbrechen. Am Licht hat neben Jan Hördemann Stillwell höchstselbst mitgearbeitet. So entstehen faszinierend poetische Bilder: Männer, die sich in ihrem Käfig aus Licht ihre Aggressivität aus dem Leib tanzen und zwischen den beiden eine schwarze Barriere, die die beiden erst allmählich durchbrechen. Am Ende kommt es zum versöhnlichen Handschlag und das Quartett formiert sich zum Schlussbild wie für die Presse gestellt. Die zündende Pointe eines brillant konzipierten und getanzten Stückes.

Ein Programm aus der Nachbarschaft

Es war dies das einzige Stück, das eigens für diesen „Nachbarschafts“-Abend entstanden ist. Die Idee für dieses Programm entlehnt Stillwell den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden in den Nachbarstädten Münster und Osnabrück. Außerdem entsteht Frieden wie Krieg leider auch, im Kleinen, in der Nachbarschaft.

Wie auch immer: Selbstverständlich ist Marguerite Donlon dabei – sie leitete ja bis zu ihrem überraschenden Weggang im Frühjahr das Tanztheater in Osnabrück. Sie hat „Ruff Celts“ reaktiviert, die sie 2106 in Chicago gezeigt hat. Die beiden anderen Choreografen sind aus der erweiterten Nachbarschaft angereist: Anouk van Djik aus Amsterdam ist mit „gentle is the power“ da, das 2015 in Melbourne uraufgeführt wurde. Giuseppe Spota, Chefchoreograf des Tanztheaters am Musiktheater im Ruhrgebiet Gelsenkirchen (MiR), hat „Blank 2.0“ ausgesucht, das 2016 in Regensburg uraufgeführt wurde.

Beliebiger Bezug

Was verhalten sich nun die einzelnen Stücke zum Thema Nachbarschaft und vor allem zum Westfälischen Frieden? In kurzen Dokumentarfilmen von Bowie Verschuuren führen die Choreografen jeweils in ihre Arbeiten ein. Tenor: Nachbarn sind einerseits die Menschen in der direkten Umgebung, andererseits diejenigen, die man halt so trifft und schätzen lernt – nun ja. Noch lockerer, um nicht zu sagen: beliebig bleibt der Bezug zum Westfälischen Frieden.

Dafür entschädigt der Tanz an sich. Das Ensemble des Theaters Münster zeigt sich von seiner besten Seite. Jede einzelne Choreografie wird athletisch, ästhetisch und präzise umgesetzt und zeigt, wie schlüssig, konsequent und klug die Arbeiten an sich sind. „Blank 2.0.“ nach den „Shaker Loops“ von John Adams baut Spota als fulminantes Ensemblestück auf. In „gentle is the power“ spüren Nadja Simchen und Bartlomiej Kowalczyk den Herausforderungen der Zweierbeziehungen nach. Donlons „Ruff Celts“ bringt schließlich das zehnköpfige Ensemble komplett in einer kleinen Nummernrevue zu Irish Folk und Sinéad O’Connor auf die Bühne. All das bereitet reines Vergnügen – und bildet immerhin eine Facette im künstlerischen Diskurs über den Frieden ab, den das Theater Münster in allen Sparten und auf vielen Ebenen führt.