Foto: © Marc Doradzillo
Text:Manfred Jahnke, am 16. Februar 2025
„Das Gewicht der Ameisen“ thematisiert die Krisen der Gegenwart, Empathie mit Mitmenschen und Handlungsmöglichkeiten. Matthias Kaschig inszeniert am Theater im Marienbad Freiburg abstrakt und lässt das Ensemble bis an die Grenzen der Emotionen spielen.
Warum ist „Das Gewicht der Ameisen“ des kanadischen Autor David Paquet ein viel gespieltes Stück für ein jugendliches Publikum in dieser Spielzeit? Trifft die Geschichte von Jeannie und Olivier einen Nerv junger Menschen? Im Zentrum des Stücks steht die Frage, wie man sich zu den großen Krisen der Gegenwart verhält. Jeannie ist nicht nur wütend über die manipulierten Schönheitsplakate in der Schultoilette, auch sonst wird sie regiert von einer Wut, die auch Grenzen überschreitet. Olivier verzweifelt an den Klimakrisen der Welt. Er versucht, wenigstens ein Stück Optimismus für sich zu retten, was ihm mit Hilfe des Ratschlags einer Buchhändlerin auch gelingt, die ihn eine „Enzyklopädie des nutzlosen Wissens“ klauen lässt. Mit der Lektüre entwickelt er eine Empathie über die Verhaltensweisen seiner Mitmenschen.
Ihr Schuldirektor, der kurz vor der Pension ist und nicht mehr sehr engagiert unterrichtet – auch, weil er eine sterbende Mutter im Altenheim zu versorgen hat – überredet Jeannie und Olivier, sich als Kandidaten für die Schulsprecherwahl aufstellen zu lassen. Denn statt nur in Wutausbrüchen oder in zagen Empathieempfindungen sich Luft zu verschaffen, wäre es doch sinnvoller – Erwachsenenlogik! – im Engagement eines Amtes an dieser Welt etwas zu verändern, wenn die Mächtigen es denn zulassen würden. Die beiden Jugendlichen setzen sich in der Vorbereitung zur Wahl intensiv mit ihren Handlungsmöglichkeiten auseinander, sie wollen es gemeinsam mit allen Mitschüler:innen anpacken. In letzter Minute tritt ein dritter Kandidat auf, der allen eine Pizza verspricht. Selbstverständlich wirkt dieser materielle Anreiz, aber Jeannie und Olivier haben nun begriffen, wie sie künftig an Veränderungen herangehen müssen.
Macht und Protest
In diesem humorvollen Text von Paquet scheint alles klar: Es geht um Verhaltensweisen des Protests und des Widerstands gegen eine Welt, die von den Erwachsenen hingenommen wird, weil sie vor den Mächtigen kuschen. Insofern ist die Entscheidung von Matthias Kaschig in seiner Inszenierung am Freiburger Theater im Marienbad sinnfällig, „Das Gewicht der Ameisen“ als Denkspiel in Szene zu setzen. Im von ihm und Bernhard Ott geschaffenen abstrakten Spielraum aus drei Elementen, die auseinandergeschoben werden können, mit einer Stufe, auf der zu Beginn die Mitwirkenden sich platzieren können, ist klar gesetzt, dass es nicht um ein naturalistisches Abbild geht. Unterstützt wird diese Absicht von den abstrakten Videos, die Kevin Graber geschaffen hat. Spannenderweise geht eine derartige szenische Untersuchung von möglichen verschiedenen Verhaltensweisen gegenüber den krisenhaften Entwicklungen in der Wirklichkeit einher mit einer starken Emotionalität.
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Im abstrakten Bühnenbild wirken die Emotionen der Schauspielenden. Foto: Marc Doradzillo
Kaschig lässt Julia-Sofia Schulze als Jeannie und Alduin Gazquez als Olivier in diesem abstrakten Kontext ihre Wut, bzw. ihre Verzweiflung bis zur Überforderung ausspielen – und sie verausgaben sich bis an ihre Grenzen. Der Schuldirektor von Christoph Müller hingegen agiert aus einer äußeren Ruhe heraus, ein alter Pädagoge, der alle Spielregeln kennt und auch alle Tricks der Manipulation: Ihn kann nur noch der Tod seiner Mutter erschüttern. Christoph Müller spielt das groß heraus, wie auch Lisa Bräuninger und Daniela Mohr mit ihren verschiedenen Rollen eine starke Präsenz setzen, zumal Kaschig sie in seiner Konzeption (fast) ständig auf der Bühne anwesend sein lässt: Sie beobachten, sie mischen sich ein.
Unaufdringlich und optimistisch
In der Tat scheint mit der unaufdringlichen, nicht moralisierenden Untersuchung von verschiedenen Handlungsalternativen gegenüber den Krisen dieser Welt Paquet mit „Das Gewicht der Ameisen“ einen Zeitnerv getroffen zu haben, wie auch die Inszenierung von Matthias Kaschig am Theater im Marienbad in Freiburg in ihrer Abstraktion zeigt. Vorsichtig optimistisch zu bleiben anhand des Elends der Welt und die Wut auch ohne Psychiater beherrschen zu lernen, das wird von der Bühne vermittelt. Eine harte, nicht einfache Botschaft für jugendlichen Elan.