Foto: Die Berichterstatter: Jan Byl, Sven Simon, Lilly Gropper © Isabel Machado Rios
Text:Detlef Brandenburg, am 6. April 2024
Dem Lübecker Schauspiel gelingt ein beklemmend gutes Rechercheprojekt über den Lübecker Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in der Hafenstraße.
Es sagt einiges aus über den politisch wachen Blick der Künstler auf ihre Stadt, dass der Vorschlag für das Rechercheprojekt „Hafenstraße“ aus dem Schauspielensemble des Theaters Lübeck kam. Ja, da war mal was. Aber mancher in dieser Stadt, die ihren Kulturstolz in Backstein gemauert und ihre Geschäftstüchtigkeit mit Marzipan überzogen hat, würde es am liebsten vergessen machen, was da in einer eisig kalten Januarnacht 1996 in der Hafenstraße 52 geschehen ist: Zehn Menschen, die nach ihrer Flucht hier eine Bleibe gefunden hatten, darunter mehrere kleine Kinder, kamen ums Leben, weil ihr Asylbewerberheim von Brandstiftern in Flammen gesetzt wurde. Und das Vergessenwollen, das Wegsehen und Ignorieren war offenbar von Anfang an die Grundhaltung jener Behörden, die eigentlich hätten für Aufklärung sorgen müssen. Der Brand war ein Verbrechen, das Sterben eine Tragödie. Die folgende Nichtaufklärung aber war ein Skandal.
Zwischen Sachlichkeit und Haltung
Dass dieses Erinnern so unter die Haut geht, ist aber auch das Verdienst des Regisseurs und Autors dieses Rechercheprojekts: Helge Schmidt. Denn so ein Projekt im Glauben an die gerechte Sache kann ja schnell in wohlfeile Betroffenheitsempörung münden. Und die geradezu verschwörungsthrillerhaft verzwickte Faktenlage lädt dazu ein, sich hinter purer Dokumentation zu verstecken – und damit im haltungslosen Reality-Theater zu stranden. Doch Helge Schmidt und sein famoses Schauspielerensemble mit dem charismatischen Jan Byl, der empathischen Sonja Cariaso, der herben Lilly Gropper, dem spröden Sven Simon und dem schillernden Vincenz Türpe schaffen eine geradezu virtuose Balance zwischen faktenorientierter Sachlichkeit und ästhetischer Haltung.
Zu den Fakten nur soviel: Obwohl sich am Tatort nach mehreren Zeugenaussagen vier der rechtsextremen Szene zugerechnete Jugendliche aufgehalten hatten und es einen Sack voll Indizien dafür gab, dass sie beim Anschlag ihre Finger im Spiel hatten, schenkten die Ermittlungsbehörden einer äußerst fragwürdigen Aussage Glauben, nach der einer der Asylbewerber das Feuer gelegt hatte.
Dieses Schema der Täter-Opfer-Umkehr fand sich immer wieder bei rechten Anschlägen, auch zum Beispiel beim Nagelbomben-Anschlag auf die Kölner Keupstraße 2004 (mehr dazu im gerade erschienen Themenheft der Deutschen Bühne „Gekommen, um zu bleiben“ über das Schauspiel Köln); hier führte es zu einer geradezu bestürzenden Ignoranz gegenüber den Erkenntnissen zur Brandursache und einer unfassbaren Schlampigkeit in der Ermittlung und der Auswertung von Beweismitteln. Dass der von der Staatsanwaltschaft präsentierte vermeintliche libanesische Täter zweimal angeklagt und zweimal freigesprochen wurde, stellt den Ermittlungsbehörden ein vernichtendes Zeugnis aus.
Der weinende Bürgermeister
Diese Fakten wurden von der Initiative Hafenstraße ’96 minutiös aufgearbeitet, und anfangs hatte man tatsächlich den Eindruck, dass sich Helge Schmidt künstlerisch zu sehr hinter deren bloßer Präsentation versteckt. Die vom Team ATELIER LANIKA gestaltete Bühne der Lübecker Kammerspiele ist fast leer, nur vorn steht ein Tisch mit Dokumentations-Materialien, hinten bilden verschiedene Projektionswände aus Lamellen ein dreidimensionales Mosaik. Auf den Lamellen erscheinen Videos (Jonas Link, Jonas Plumke) von Zeitzeugen, die vom Anschlag berichten: Michael Bouteiller, der weinende Bürgermeister; Gabriele Heinecke, die Anwältin des Angeklagten; Jana Schneider von Initiative Hafenstraße ’96; Holger Bachmann-Wulf, der Prozessbeobachter und andere. Die fünf Akteure präsentieren sich zunächst als Schauspieler, die keinesfalls Schauspieler sein wollen, sondern Berichterstatter, die einfach mal so anfangen. Bloß kein Einfühlungstheater, es geht ja um Sachverhalte!
Doch das ist geschicktes Understatement. Denn je länger, je mehr kommt in ihrer Attitüde, ihrem Sprachduktus, in der Art, wie Worte wiederholt oder parallel gesprochen werden, auch eine Haltung zum Vorschein, ganz cool, ganz lakonisch, ganz beiläufig. Ein Wasserbassin bietet sich an, Hände und Füße in Unschuld zu baden, eine Regenwand scheint alles wegwaschen zu wollen. Unvermittelt wechseln Akteure die Kleidung, einmal erscheinen sie mit einer Bundesadler-Kopfmaske. Gegenüber dieser ästhetischen Coolness wächst beim Zuschauer nur um so mehr die Empörung, gerade weil sie eben nicht agitatorisch eingefordert wird, sondern sich scheinbar aus der Sache selbst ergibt.
Eine offene Wunde
Und so, wie der Anfang dieses Theaters kein theatraler Anfang sein will, will der Schluss auch kein Finale sein. „Sie können jetzt gehen“, werden die Zuschauer beschieden. „Sie können aber auch sitzenbleiben.“ Und man spürt: Das Ende dieses Theaterabends kann nicht das Ende dieser Geschichte sein. Das Fanal „Hafenstraße“ markiert eine offene Wunde, die sich erst schließen wird, wenn eine Aufarbeitung doch noch möglich wird. Dass dieser Abend diese brennende Frage so klar herausstellt, macht ihn zum einem Ereignis von hoher ästhetischer und gesellschaftlicher Relevanz.