Wenn Schweigen vernichtet

Lisa Wentz: Azur oder die Farbe von Wasser

Theater:Theater in der Josefstadt, Premiere:30.01.2025 (UA)Regie:David Bösch

David Bösch inszeniert die Uraufführung von Lisa Wentz‘ „Azur oder die Farbe von Wasser” über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Dabei bleibt das Innenleben der Figuren dieses Volksstücks im Dunkeln.

Er hatte den Mut, sein Schweigen zu brechen: Zu Beginn dieses Jahres starb Josef Hartmann, Sohn eines Weinviertler Kleinbauern und ehemaliger Zögling des erzbischöflichen Knabenseminars Hollabrunn, der 1995 durch sein Outing als Missbrauchsopfer den „Fall Groër” ins Rollen brachte. Es war ein weltweit Aufsehen erregender Tabubruch, dass Hartmann den damaligen Erzbischof von Wien des sexuellen Missbrauchs beschuldigte. Die Initialzündung, sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche endlich öffentlich zu machen. Ihre Vertreter jedoch schwiegen, mauerten und denunzierten. Dadurch verstärkten sie das Leid der Opfer und ignorierten Reformforderungen. Bis heute ist die Causa Groër weder vom Vatikan noch in Österreich restlos aufgearbeitet worden.

Zu fragen, wie es möglich sei, den „Mord” an Kinderseelen so lange zu vertuschen und die zerstörerischen Folgen transgenerationaler Traumata ins Bewusstsein zu rücken, ist das Verdienst der 1995 geborenen Tiroler Autorin Lisa Wentz mit ihrem in Mundart verfassten Volksstück „Azur oder die Farbe von Wasser”. Es entstand als Auftragswerk für das Wiener Theater in der Josefstadt, wo es David Bösch, seit dieser Spielzeit Intendant am Linzer Landestheater, zur Uraufführung brachte.

Eine Bühne wie ein Puppenhaus

Wie ein überdimensionales Puppenhaus als scharf ausgeleuchtetes, soziales Sezierfeld erscheint der Hof der Familie Mahringer. Opa Helmuth (Michael König), Mutter Mina (Ulli Maier), Tochter Martha (Katharina Klar) und Sohn Johannes (Alexander Absenger) hausen in der karg eingerichteten Küche mit Gasherd, weißer Kredenz und obligatem Kruzifix über dem Esstisch. Eine schlichte Holzleiter führt zu einem Schlafzimmer unterm Giebeldach. Dort wird später Enkelin Anna (Juliette Larat) wohnen, Johannes‘ Tochter mit Karla (Martina Ebm). Die Einheitsbühne Patrick Bannwarts ähnelt seinem Szenario für David Böschs Uraufführungsinszenierung von Wentz‘ „Adern” am Wiener Akademietheater 2022, wofür sie u.a. den Nestroy Autor*innenpreis erhielt. War „Adern” ein Stück über das Verschweigen der NS-Vergangenheit in einem Tiroler Bergdorf, so dreht sich auch „Azur” um die familiäre und gesellschaftliche Sprachlosigkeit gegenüber einem Verbrechen.

Azur oder die Farbe des Wassers Theater in der Josefstadt

Oliver Rosskopf (Geri) und Alexander Absenger (Johannes). Foto: Astrid Knie

Wie die quälend kreisenden Gedanken des von einem Priester im katholischen Knabeninternat sexuell missbrauchten Johannes rotiert das Haus um die eigene Achse. An seiner Rückseite steht Absenger als Teenager mit Vokuhila-Frisur der 1980er Jahre in farbverschmierter Hose und bespritzt mit blauer Farbe eine Leinwand. Ausgelassen tanzt er mit Freund Geri (Oliver Rosskopf) zu „Wild Boys” von Duran Duran, bis sie einander küssen.

Dialogische Erzählweise und traumartig-lyrische Sequenzen

Mit einer Art Enthüllungsdramaturgie aus achtzehn Szenen in Vor- und Rückblenden erzählt Wentz in ihrem dialogischen Figurendrama die Geschichte des jugendlichen Johannes, der seinen Geliebten Geri aus Schmerz und Scham in die Flucht schlägt, später auch Frau und Kind verlässt, indem er verschwindet und zehn Jahre später für Tod erklärt und symbolisch begraben wird. In traumartig-lyrischen, bis ans Kitschige reichenden Sequenzen spricht Tochter Anna als wütend-aggressiver Teenager mit ihrem verschwundenen Vater, um sich am Ende, befreit durch die Wahrheit, von ihm zu lösen.

Es ist Günter Franzmeier als Richard, der in einer einzigen, kurzen Szene mit seinem erwachsenen Sohn Geri jene sture Borniertheit und Selbstgefälligkeit verkörpert, mit der eine ebenso frauenfeindliche wie homophobe, der Kirche untertänige Dorfgesellschaft ihre Opfer mit Ignoranz verhöhnt. Die Hände in der Hosentasche seines grauen Anzugs, das Gesicht gleichsam zum Angriff gewappnet, vermag er seine Arme nicht aus der Versteinerung seiner Gefühle zu lösen, um den schwulen Sohn zu umarmen. In wenigen Minuten erzählt Franzmeier von der emotionalen Verrohung durch Feigheit und Scham, von jenem gesellschaftlichen Schweigen und Herauswinden, das Missbrauch ermöglicht und duldet. Der Ausnahmeschauspieler beherrscht dabei nicht nur dezent den Tiroler Dialekt, sondern vermag durch sein facettenreiches Spiel auch Wentz‘ Sprache plastisch werden zu lassen.

An der Oberfläche

Trotz zahlreicher Kostümwechsel (Moana Stemberger) und Musikzitate von Madonna über Prince bis Queen kommt die Inszenierung nie richtig in Fahrt. Dies mag daran liegen, dass Wentz zwar einen Plot über das Verschweigen von Missbrauch konstruiert, nicht aber dessen Folgen für die Betroffenen vermittelt, wodurch die Figuren weder Kontur noch Tiefe erlangen. In einem Spiel ohne Zwischentöne, die allein Günter Franzmeier und Michael König dem zu brav an der Oberfläche dahingleitendem Text entlocken können, bleiben die Charaktere Typen und deren Beziehungen unterbelichtet. Dabei wären sie doch der Schlüssel, das Schweigen zu brechen.