Foto: Ein Licht im Dunkel: Brahms "Requiem" im Bremer St.Petri Dom, von Choreograf Urs Dietrich. © Jörg Landsberg
Text:Ulrike Lehmann, am 27. März 2012
Eine riesige Leinwand hängt vor der Orgelempore, darunter, im Mittelschiff des St. Petri Doms in Bremen, stehen Opernchor, Extrachor, der Bremer Domchor und sitzen die Bremer Philharmoniker – zusammen also gut 150 Musiker. Bremens scheidender Tanzleiter Urs Dietrich hat Johannes Brahms’ „Ein deutsches Requiem“ an den Ort seiner Uraufführung zurückgebracht, und zwar in szenisch-tänzerischer Umsetzung. Weil allerdings kaum Platz für die Tänzer übrig ist außer im Mittelgang, weil das Sichtfeld durch Säulen begrenzt ist und sich außerdem zahlreiche Sitzreihen im Seitenschiff des Doms befinden, zeigt Urs Dietrich das Gros der tänzerischen Szenen gefilmt, auf dieser überdimensionalen Leinwand. Teils wirkt seine Bebilderung redundant, aber in den meisten Sätzen schafft es der Schweizer Choreograf, die reinigende Wirkung, die Trauer und den Trost in Brahms Werk zu greifen.
Einer Figur in weißem Anzug, sitzend, von hinten nur zu sehen, brennt der Kopf. Das Feuer breitet sich aus, über die Schultern, den Oberkörper, bis nur ein Flammenball noch lodert. „Selig sind, die da Leid tragen …“? Pervers, denkt man, starrt weiter ins gefilmte Feuer, Minute um Minute, und es passiert etwas mit einem, während Markus Poschner behutsam den ersten Satz erklingen lässt. „… denn sie sollen getröstet werden.“ Man wird ruhiger. Trüb blickende Gesichter, alte und junge, ziehen auf der Leinwand vorüber, eine Träne löst sich, zum Beginn des 2. Satzes „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.“, den markerschütterndsten Takten des ganzen Werkes. Zentimeter für Zentimeter rollt die Träne auf nackter Haut herab, man weiß, sie muss irgendwann aufschlagen, fragt sich, wann und wo, bis mit ihr zwei Füße loslaufen, über dunkles Gras. Tänzer in schwarzen Anzügen und Lackschuhen winden sich auf diesem Gras, kriechen einzeln voran, die Handgelenke verdreht, in sich gesunken, und häufen sich bald im Knäuel aneinander. Es ist ihnen sinnlose Qual, unser Leben, und so nah sie dem fruchtbaren Boden doch sind, so fremd ist ihr feiner Zwirn der Natur des Menschen.
Brahms hat sein „Requiem“ auf Deutsch geschrieben, entkoppelt von der katholisch-lateinischen Requiem-Tradition steht der Mensch im Mittelpunkt, sein Leiden an der Gewissheit des Vergänglichen und das Versprechen des Trostes aus der Offenbarung (Johannis 14,13). Doch Urs Dietrich glaubt wohl nicht an diesen Trost, immer wieder suggerieren seine Bilder Vergeblichkeit. Im dritten Satz irren seine Tänzer im Video wie Gehetzte in leeren Gängen umher, während Martin Kronthaler „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss.“ in kraftvollem Bariton anstimmt. „Wes soll ich mich trösten?“: Nur kurz huschen leibhaftige Tänzer mit Lichtern durch die Seitengänge des Doms. Man muss Trost auch sehen wollen.
Die Auf- und Abgänge der zwei Sänger löst Dietrich wunderbar, indem er sie unmerklich mit den Tänzern hereinströmen oder abrupt fliehen lässt, wenn diese zwischen den Sätzen immer mal wieder den Mittelgang durchschreiten oder -rennen. Martin Kronthaler überzeugt mit wohliger Tiefe und guter Artikulation, während der Sopran von Sara Hershkowitz zwar in süßlicher Dramatik schwelgt, leider jedoch ganze Silben verschluckt und damit einen Großteil des Textes schuldig bleibt. Markus Poschner führt die gewaltige Besetzung sensationell präzise und in angemessenen Tempi, wird nur teils zu üppig im Klangvolumen. Vor allem der Chor leistet Herausragendes mit klaren Einsätzen, ausgewogenem Klangbild und erfreulichem Konsonantenreichtum.
Im Zentrum des Requiems steht der 4. Satz „Wie lieblich sind deine Wohnungen Herr Zebaoth.“ Doch in den Filmsequenzen bei Urs Dietrich winkt in den himmlischen Gefilden keine Erlösung. Zwar sind seine Tänzer in weißen Tüll gehüllt, einige in sich versunken wie schlafende Kinder, doch je mehr Einblick man in die leeren, weißen Räume erhält, die sie durchstreifen, desto absurder wird es: Ein Tänzer mit Boxhandschuhen, einer mit Mundschutz, einer, der die Pupillen bis in die Augenhöhle eindreht. Irr sind sie, schützen wollen sie sich, doch wovor? Wo Brahms uns eine großes Werk des Trostes hinterlassen hat, flüstert uns Urs Dietrich zu: Täuscht euch nicht, alles Hoffen ist ja doch vergebens.