Foto: Uwe Steinbruch in „Die NSU-Protokolle“ am Staatstheater Kassel © M. Sturm
Text:Jens Fischer, am 13. September 2019
Verführerisch ist es und Regisseur Janis Knorr gibt am Staatstheater Kassel dem Drang nach deutlicher Positionierung nach – wider dem, was vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München im Namen des Volkes passiert ist. Scham, Wut, Frustration rief es hervor, das exemplarische Scheitern des deutschen Rechtssystems an zehn Morden, drei Sprengstoffanschlägen, einer Brandstiftung und 15 Raubüberfällen des so genannten NSU.
60 Anwälte vertraten fünf Angeklagte und 91 Nebenkläger an 438 Prozesstagen, hörten 600 Zeugen und Sachverständige. Aber am Ende war lediglich klar, die Justiz kümmert sich nicht um Gerechtigkeit, Wahrheit und lückenlose Aufklärung von Verbrechen, sondern nur um Einhaltung bis zur Absurdität ausgereizter Verfahrensregeln und die Festsetzung eines Strafmaßes für die Angeklagten. Selbst dabei wurde sie massiv behindert durch politisch verordnete Informationsverweigerung beispielsweise des Verfassungsschutzes. Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel noch 2012 in einer Ansprache an die Angehörigen der Opfer der NSU-Attentate gesagt, Deutschland würde „mit Hochdruck“ die Morde aufklären, Hintermänner und Helfershelfer aufdecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuführen. Mit der Einspielung dieser Aussagen beginnt denn auch die Uraufführung von „Der NSU-Prozess. Die Protokolle“.
Da aber fast nichts von den Versprechen eingelöst wurde, endet die Inszenierung mit dem Plädoyer des Nebenklägeranwalts Mehmet Daimagüller. Das Publikum sitzt, steht, wandelt inzwischen auf der Bühne, das Schauspieleroktett rezitiert mittendrin, resigniert zustimmend, die Ausführungen des Juristen. Spricht von institutionellem Rassismus in deutschen Behörden, „der es einem Mordopfer nicht erlaubte Opfer zu sein“, und behauptet, „terroristische rechtsextreme Strukturen darf es im post-nationalsozialistischen Deutschland nicht geben“, davor hätten Politiker, Behörden, Bundesanwaltschaft Angst und daher im Sinne der Staatsräson nur die These vom NSU als isoliertem Trio verfolgt. Rechte Netzwerke, die nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke dezent ans Tageslicht kommen und eine Kontinuität des NSU-Terrors nahelegen, bestehen laut der Daimagüller-Argumentation „zu wesentlichen Teilen aus von der Bundesrepublik Deutschland bezahlten V-Leuten. Teilweise hätte es sie ohne die Unterstützung der Verfassungsbehörden und die damit einhergehende öffentlich-rechtliche Alimentierung gar nicht gegeben.“ Letztendlich bewiesen ist all das nicht. Aber schnurstracks in diese Empörungsrichtung läuft die Kasseler Produktion. Was natürlich Tür und Tor für Verschwörungstheorien öffnet, wobei auch leise dräuende Musikzuspielungen helfen.
Im Bühnenhintergrund steht in Leuchtschrift „Im Namen des Volkes“ (Ausstattung: Ariella Karatolou), davor ist das Kasseler Internetcafé in Andeutungen nachgebaut, in dem Halit Yozgat 2006 erschossen wurde. Passagen zu diesem Fall haben der Regisseur und Dramaturgin Petra Schiller aus den fast 2000-seitigen Mitschriften der NSU-Verhandlung ausgewählt, die Journalisten der Süddeutschen Zeitung (SZ) als Buch veröffentlicht haben. Äußerst spannende O-Ton-Dialoge sind das, sodass es erstaunt, nicht landauf, landab theatrale Auseinandersetzungen damit zu erleben. Erzählen sie doch viel über die Realitätsblase der deutschen Justiz und auch darüber, was alles schief gelaufen ist seit der Wende und nun in rechtspopulistischen sowie rechtsextremen Gedanken und Taten einen Ausdruck findet.
In weiß-rosa entindividualisierenden Overalls spielen die Darsteller die Verhöre und Einlassungen der Juristen und Nebenkläger nach. Machen dabei deutlich, wie der Vater des Opfers (Uwe Steinbruch) immer wieder eingeschüchtert und ihm der Mund verboten wird. Betonen die bengelige Schnöseligkeit der Täteranwälte wie auch die zynische Arroganz von Behördenvertretern und Neonazis, die sich in allen entscheidenden Punkten an nichts erinnern können. Dabei auch mal Aktenblätter einfach verspeisen. Während der Richterin (Meret Engelhardt) zunehmend der Feldwebeltonfall versagt, sie immer jovialer, aber auch panischer wird angesichts des großen Schweigens. Die Opferanwältin (Rahel Weiss) hat derweil mit ihrer rasenden Ohnmacht zu kämpfen. Der Kasseler V-Mann Andreas Temme, der zur Tatzeit vor Ort war und nichts mitbekommen haben will, wird geradezu lächerlich gemacht. Was konsequent ist für die aus Opfersicht argumentierende Regie. Darsteller Artur Spannagel spricht betonungslos, eben wie ein vom Verfassungsschutz ferngesteuerter Replikant, schleicht somnabul umher und hält sich an einem Stapel Unterlagen fest, aus denen er seine Weiß-nichts-Phrasen abliest. Wobei er mit rotem Faden in sein Lügengespinst eingewebt wird. Temme arbeitet heutzutage übrigens nur wenige Straßen vom Theater entfernt und berechnet Kasseler Bürgern die Rente.
Nach der Pause stellt das künstlerische Team noch deutlicher bittere Entrüstung aus. Die von den SZ-Journalisten angefertigten Kurzfassungen der Prozesstage werden auszugsweise lässig swingend im ironischer bis höhnischer Diktion vorgetragen. Ganz offen macht man sich lustig über den Prozess und die Beteiligten. Um dann mit dem Plädoyer die Argumente dafür zu liefern. Schließlich ist Walter Lübckes Rede über unsere Wertegesellschaft aus dem Off zu hören, der rechte Hetzkampagnen folgten, die schließlich in dem Mord mündeten. Das letzte Wort der Einspielung ist Demokratie – es wird derart verhallt, dass es sich aufzulösen scheint.
Ja, die Aufführung ist ein einseitiger Kommentar zum NSU-Prozess. Es ist ein polemischer Abend. Aber eben auch aufregend zeitgenössisches Selbstverständigungstheater. Nämlich am Puls dessen, was Kassel angesichts der Vorwürfe bewegt, eine braunes Nest zu sein.