Foto: © Candy Welz
Text:Volker Oesterreich, am 14. Januar 2024
Am Theater Heilbronn wird das Stück „Gott wartet an der Haltestelle“ von Maya Arad Yasur mit einer aktuell dringlichen Botschaft aufgeführt. Mit eingeflochtenen Thesen der Menschlichkeit fokussiert sich die Inszenierung aber nicht auf die Schockgefühle des Terrorkriegs. Das Ensemble begibt sich auf familiäre und psychologische Spurensuche.
Das Grauen begreifen und die Humanität bewahren – um diese beiden Pole kreist Maya Arad Yasurs Stück „Gott wartet an der Haltestelle“. Schon 2014 wurde es in Tel Aviv uraufgeführt, aber jetzt, nach dem Hamas-Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 auf israelische Zivilisten, ist es umso dringlicher. Als sich das Theater Heilbronn und der seit gut drei Jahrzehnten in der Oberliga der Regie arbeitende Hans-Ulrich Becker diesen Theatertext auswählten, war zwar die Welt auch nicht in Ordnung, aber vom bevorstehenden Angriff der Hamas auf Israel, von der Geiselnahme und dem darauf folgenden Gaza-Krieg war noch längst nicht die Rede.
Nun hält die neue Eskalationsspirale schon seit mehr als 100 Tagen an, doch noch gibt es keine Lösung, wie dem alltäglichen Horror Einhalt geboten werden kann. Frieden jetzt, aber wie? Diese Frage steht im Nahen Osten über allem. Genau daran knüpft das Theater Heilbronn an. Die Aufführung taucht tief ein in die Ursachenforschung, indem sie persönliche Motive von Tätern und gesellschaftliche Traumata aufdeckt. Immer verbunden mit einem Appell: „Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter.“
Überleben in der Realität
Die Werke der 1976 in Israel geborenen Autorin wurden schon in 15 Sprachen übersetzt, 2018 erhielt sie den Stückemarkt-Preis des Berliner Theatertreffens. In „Gott wartet an der Haltestelle“ setzt sie sich mit einem Sprengstoffanschlag auf das Restaurant Maxim während der zweiten Intifada im Jahr 2003 auseinander. 19 Menschen verloren ihr Leben, darunter auch die palästinensische Attentäterin. Zahlreiche weitere Menschen wurden verletzt.
Arlen Konietz, Sarah Finkel, Sven-Marcel Voss, Leonie Berner, Stefan Eichberg, Oliver Firit, Sabine Unger, Regina Speisede Foto: Candy Welz
Maya Arad Yasur studierte zu dieser Zeit in Jerusalem, „wo etwa dreimal wöchentlich Bomben in Bussen und Restaurants explodierten“, wie sie in einem Interview berichtet. Sie fuhr nur noch mit dem Taxi zur Uni und war bei Café- oder Kneipenbesuchen äußerst vorsichtig. Darauf spielt auch der Titel ihres Stücks „Gott wartet an der Haltestelle“ an. In einer Szene ist eher beiläufig davon die Rede, dass eine Frau nur deshalb überlebt, weil sie an einer Haltestelle einem alten Mann dabei hilft, heruntergefallene Münzen aufzuheben. Deshalb verpasst sie den Bus, der kurz darauf in die Luft gesprengt wird.
Ein herabziehender Strudel
Das Stück spielt an einem Checkpoint zwischen dem West-Jordanland und Israel, an dem eine vermeintlich schwangere junge Frau ohne Passierschein eine ebenso junge Soldatin der israelischen Armee mit Tricks und Überredungskunst davon überzeugt, dass sie einreisen darf. Kurz darauf zündet sie ihre Bombe im Restaurant. Das Publikum weiß das von Anfang an. Nicht die Tat steht im Mittelpunkt, sondern die persönlichen Voraussetzungen, von denen Menschen in einen Strudel von Hass, Gewalt und Terror herabgezogen werden.
Hans-Ulrich Becker und sein achtköpfiges Ensemble loten die Vor- und Rückblenden des episch angelegten Stücks mit Feingefühl aus. Sie sind nicht auf Schockeffekte aus, sondern begeben sich auf die psychologische und familiäre Spurensuche. Als Einheitsbühnenbild hat der Regisseur einen Kontrollposten aus grauen Panzersperren und Peitschenlampen entworfen. Dahinter ist eine bühnenbreite Leinwand für Projektionen von Wüstenbildern aus dem Westjordan-Land oder Nahaufnahmen der Akteure. Man kann mit den grauen Betonwürfeln des Checkpoints auch Grabsteine assoziieren. Oder man interpretiert sie, etwas weiter gefasst, als Anspielung auf Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal in der Nähe des Brandenburger Tors.
Mitleid, Gewissen und Thesen der Menschlichkeit
Im Zentrum des Geschehens stehen die palästinensische Krankenschwester Amal, gespielt von der überaus versierten Sarah Finkel, und die Grenzsoldatin Yael. Die Soldatin hadert ständig damit, bei der Kontrolle Amals aus dem Motiv des Mitleids versagt zu haben. Sie lässt die vermeintlich schwangere Attentäterin Amal passieren. Deshalb plagt die junge Soldatin das schlechte Gewissen, was Regina Speiseder sehr geschickt zu spielen versteht. Um beide Frauen herum eine Gruppe weiterer Akteure, die alle ihrerseits vom alltäglichen Hass und Terror betroffen sind. So oder so.
Doch wie kann man solch ein Stück unter dem Eindruck des neuen Gaza-Kriegs überhaupt aufführen? Das haben sich Maya Arad Yasur und das gesamte Heilbronner Team gleichermaßen gefragt. Unter dem Titel „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“ hat die Autorin Thesen der Menschlichkeit zusammengetragen, die an passenden Stellen ins Szenegeflecht eigewoben wurden. Darin geht es zum Beispiel darum, wie man Kindern die Angst vor einer Geiselnahme nimmt, damit keine neuen Traumata entstehen. Vorschnelle Lösungen kann auch die Autorin nicht bieten, das weiß sie, aber dennoch interpretiert sie die im Programmheft zitierte Aussage des Stardirigenten Daniel Barenboim auf ihre Weise: „Es gibt Menschen auf beiden Seiten. Menschlichkeit ist universell, und die Anerkennung dieser Wahrheit auf beiden Seiten ist der einzige Weg.“