Foto: © Susanne Reichhardt
Text:Manfred Jahnke, am 10. Dezember 2023
Zwischen unzuverlässlichen Erinnerungen und verschiedenen Welten findet die Premiere „Herkunft“ nach Saša Stanišić am Theater Heidelberg statt. Regisseur Nick Hartnagel hat sich dabei für eine Aufsplittung des Protagonisten in vier SchauspielerInnen entschieden.
„Herkunft ist Großmutter“ schreibt Saša Stanišić in „Herkunft“. 2019 erschienen und mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet berichtet die Erzählung „über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.“ (Klappentext) Das „Danach“ ist heftig: der 1978 in Višegrad geborene Autor kam mit seiner Familie 1992 nach Deutschland. In dieser Zeit brach Jugoslawien auseinander. In Bosnien begannen Serben und Kroaten sich gegenseitig zu morden. Die erste Station dieser Flucht von 1992 bis 2004 ist Heidelberg. Hier wird der Autor in der Araltankstelle im Emmertsgrund, aber auch in der Internationalen Schule sozialisiert. Währenddessen seine Eltern weit unter ihrem Bildungshintergrund bei BASF oder in einer Wäscherei arbeiten müssen.
Bei aller Anpassung lebt der Erzähler in zwei Parallelwelten: in Deutschland ganz real und in Višegrad bei seiner Großmutter mit Drachen und Schlangen, einer schon mythisch gewordenen Welt. Er jagt nach Erinnerungen seiner „Herkunft“, wobei es zu einem Paradox kommt: „Als meine Großmutter Kristina Erinnerungen zu verlieren begann, begann ich, Erinnerungen zu sammeln.“ Nicht nur wird die Unverlässlichkeit des Erinnerns zu einem wichtigen Faktor des Erzählens, sondern es verbindet sich mit den unterschiedlichen Perspektiven. Diese kennzeichnen sowohl die Welt des Ich-Erzählers als auch die der Großmutter.
Vier verkörpern Einen
Am Theater Heidelberg hat Nick Hartnagel eine Fassung inszeniert, die sich auf die Beziehung Großmutter und Saša konzentriert. Saša wird dabei von vier SchauspielerInnen verkörpert. Das bedeutet auch eine Auflösung der Saša-Figur. Zwar finden die beiden Spieler und die zwei Spielerinnen immer wieder in gemeinsamen Aktionen zusammen – wie das Wasserglas an Kristina zu überreichen, aber insgesamt führen sie verschiedene Facetten der Figur vor. Die Figur – zerlegt in sich widersprechenden Haltungen – wird damit auch unzuverlässig. Marie Dziomber, Simon Mazouri und Leon Maria Spiegelberg arbeiten in ihrem Spiel wunderbar genau diese unterschiedlichen Haltungen heraus, freundlich zugewandt, verspielt, in kleinen Aktionen aggressiv.
Getoppt werden sie von Vladlena Sviatash, die das verkörpert, was der Erzähler unterdrückt und im Erzählvorgang auch ausspart: Er trauert, ohne aggressiv zu werden. Sviatash hingegen spielt zum Ende hin eine junge Frau, die ihre Wut auf ihre Verhältnisse nicht unterdrücken mag. Das macht sie mit einer hohen Präsenz, die mitreißt.
Vier SchauspielerInnen verkörpern Sasa im Gespräch mit der Großmutter: Marie Dziomber, Leon Maria Spiegelberg, Simon Mazouri, Verena Buss und Vladlena Sviatash. Foto: Susanne Reichhardt
Verloren in einer anderen Welt
Verena Buss spielt die Kristina, die immer mehr in einer anderen Welt zu leben beginnt. Sie wartet auf Pero, ihren Mann, der schon lange tot ist. Daraufhin nimmt sie den Enkel mit zu einem kleinen Gebirgsdorf, wo auf den Grabsteinen stets der Name Stanišić steht. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, in der die Gegenwart keine Rolle mehr spielt. Verena Buss spielt das in sich gekehrt aus, im Unterton ist stets ein Staunen spürbar über die Welt, wie sie ist. Wenn sie am Ende mit einer großen Papierkrone auf der Bühne steht, assoziiert man nicht zufällig den Lear. Es ist ein einsamer Mensch, der mit einer großen Kraft seine Vergangenheit – und seine nicht mehr wahrgenommene Gegenwart – lebt.
Die Beziehung zwischen Kristina und den vier SpielerInnen steht zwar im Zentrum dieser Inszenierung, aber Nick Hartnagel behält dennoch das Narrativ des Originals bei. Viel Raum haben die Geschichten von der Araltankstelle, die erste Liebe, die angenehmen und unangenehmen Begegnungen in Heidelberg. Nur der Rückblick aus Hamburg, wo der Erzähler heute lebt, bleibt als weitere Zeitebene ausgespart.
Hochpolitisch und humorvoll
Für diese Inszenierung hat Yassu Yabara quer über die ganze Bühne eine Fensterfront geschaffen, nah an der Rampe, so dass ein reliefartiges Spiel entstehen kann. Bei Aggressionsakten lassen sich einzelne Teile dieser gläsernen Wand herausschlagen. Möglich sind auch Projektionen, die Landschaften zeigen. Lukas Lonski hat dazu eine Musik komponiert, die Motive von „Nirvana“-Songs stimmungsvoll aufnimmt. Da ist Hartnagel in Heidelberg eine differenzierte hochpolitische Inszenierung gelungen, die nicht auf den leisen Humor der Vorlage verzichtet.