Wenn der Autor und der Regisseur aus einem Land kommen, in dem Menschen verschwinden können, ohne dass eine Anklage erhoben wird, lädt sich die Geschichte politisch auf: die Vorgänge um den Herrn K., der hier zu einem Versicherungsagenten für Schadensregulierungen wird, erscheinen sehr konkret, wenn Sarreshteh auch an der Parabelhaftigkeit von Kafka festhält. Mit fünf Personen erzählt er die Geschichte voller aktueller Bezüge, mit gegenwärtigen Sprachformeln, die auch den Einsatz digitaler Medien nicht aussparen. Die Handlungen werden auf die Übergriffigkeit des Systems mit seinen Demütigungen konzentriert, eines Systems, das wegen seiner Anonymität funktioniert und jeden betreffen kann, auch die Akteure des Regimes selbst.
Empathielosigkeit
Im Zentrum aller Handlungen steht Josef K., den das anonyme Gericht zu erniedrigen versucht. Mit einer großen politischen Rede pocht er auf seine Unschuld. Thieß Brammer spielt diesen Josef K. staksig, bockig-verbissen, aufbrausend, aber immer nur auf sich bezogen. Was ihm fehlt, ist die Empathie: Weil er sich nicht in andere Menschen einfühlen kann, kann er auch nicht deren Hilfsangebote annehmen. Brammer spielt das groß aus, seine Empörung aus gekränkter Eitelkeit ebenso, wie die wenigen Momente, in denen er zu zweifeln beginnt. Auf einer großen Party, auf der auch die Vertreter des Systems sind, sieht K. keinen anderen Ausweg mehr, als sich aus dem Fenster zu stürzen: „Mit brechenden Augen sehe ich noch, wie die Gäste, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachten.“
K. geht in der Inszenierung von Amir Reza Koohestani einen unpolitischen Weg: Von der Revolte aus gekränkter Eitelkeit zum sturen Rechthaber, der in dieser Inszenierung an den Kohlhaas erinnert, um am Ende resigniert sich in den Tod zu stürzen, nur, um Recht zu behalten. Koohestani entwickelt seine starke Personenregie in einem Bühnenbild ( Marie Hervé, Éric Soyer), das die Bühne mit hervorspringenden grauen Mauern eingrenzt. In der Mitte steht eine Wand, die auseinandergezogen neue Räume schafft, unterstützt von den Videos (Yasi Moradi), die Türen, Notausgänge, aber auch den Kopf von K. in einer ungeheuren Vervielfältigung zeigen. Auch das Licht ( Marie Hervé, Éric Soyer) unterstützt das Grau dieses Ambientes, das einen bedrohlichen Eindruck macht. Selbst die Kompositionen von Ava Rasti, so zart sie sind, haben etwas Schwermütiges.
Zärtlichkeit und Hilflosigkeit
Wie geht man mit jemanden um, der sich nicht helfen lassen will? Der keine Geduld hat, sondern alles sofort verändern möchte? Der K. von Thieß Brammer misstraut, je länger die Pressionen andauern, allen seinen Mitmenschen, auch dem Fräulein B., die in der gleichen Versicherung, aber in einer anderen Abteilung arbeitet. Josefin Fischer gibt dieser Rolle am Anfang zarte Töne, sie möchte wirklich helfen. Je versteifter K. in seinem Verhalten ist, um so aggressiver agiert Fischer, ihr Mitleid verwandelt sich in Gleichgültigkeit. Auf der Täterseite spielt Marieke Kregel eine Ermittlerin, die bei aller Härte Sympathien für K. hat. Sie ist keine Überzeugungstäterin, um so mehr ist sie enttäuscht, dass K. ihr Hilfe verweigert, nachdem er sie um ihren Posten und ihre Wohnung gebracht hat. Henry Meyer spielt den Titorelli mit der Spraydose in der Hand, ein Künstler, der sich dem System verdingt hat, ein bisschen selbstverliebt.
Der eigentliche Gegenspieler zu K. ist der Untersuchungsrichter, den Hartmut Stanke mit seiner Präsenz stark ausspielt: ein altersweiser Mann, der zuhören kann, mit Strichen an den Wänden reagiert, wenn K. in seiner gekränkten Eitelkeit argumentiert. Was Sarreshteh und Koohestani mit ihrer Überschreibung von Kafkas „Der Prozeß“ herausarbeiten, ist das Psychogramm eines Bürgers, der im Kampf gegen das System untergehen muss, weil er nur an sich denkt. Das wird mit starken Bildern erzählt.