Foto: Der Stier als todbringender Geliebte © Festival d'Avignon / Christophe Raynaud de Lage
Text:Jörn Florian Fuchs, am 12. Juli 2021
Besser als zum derzeit auch nachts arg hitzigen, von Zikadenzirpen und den Klängen unzähliger Musiker und Theatergruppen vibrierenden Avignon könnte Angélica Liddells neues Projekt nicht passen. In der – gut gekühlten – Opéra Confluence (einer Ausweichspielstätte des in Renovierung befindlichen Opernhauses) öffnet sich zunächst nur ganz kurz der Vorhang, man sieht einen halbnackten Mann, der eine Reihe von Katzen an Leinen herumführt, die ebenso neugierig wie irritiert ins Publikum blicken. Erst zum Finale, nach etwa zwei Stunden, kehren die Stubentiger zurück, in einem Glassarg, darin ein Körper. Ob es sich um Reste des berühmt-berüchtigten Toreros Juan Belmonte handelt, auf den sich Liddell immer wieder bezieht? Belmonte lebte von 1892 bis 1962 und verstand den Stiefkampf als religiösen Akt. Vielleicht soll auch eine Pietà auf ihn und seine Kollegen hinweisen, da nimmt die spanische Performerin in unglaublicher Zärtlichkeit einen behinderten Mann mit nur einem Bein und einem Arm in ihre Arme und auf ihre Schultern, er berichtet davon, dass er sechs Monate auf eine Beinprothese warten muss und ihm sein Leben zunehmend sinnlos erscheint.
Weiters treten auf ein toter Stier, von dem sich Liddell mal ein Zeichen, mal (vielleicht) sogar eine Vergewaltigung erhofft. Zum Vorspiel des dritten Aufzugs von Wagners „Tristan und Isolde“ beschwört sie „ihren“ tierischen Tristan, sehnt sich nach animalischer und spiritueller Verschmelzung. Überhaupt spielt das spirituell Rituelle eine zentrale Rolle. In einer gewaltigen, ja gewalttätigen Rede ans Publikum – eigentlich eher eine geschriene Anklage – wütet Liddell gegen eine Kunstauffassung diesseits und jenseits der Bühne, die sich nur noch um sich dreht, Boutiquenkunst, selbstreferentiell und völlig a-metapysisch. Die Pariser Kultur(nachwuchs)elite etwa sorge sich einzig um Konsum, Geld, Macht. Fassungslos schreit Liddell ihre Empörung heraus, dass die Frage nach Religion, nach Gott nicht einmal als Frage mehr vorkommt. Ihr Gegenmodell ist eine Theokratie, eine Rückkehr zur radikalen Religion, zur Rückbindung an archaische Formen. Und genau dafür steht der Stierkampf, nicht als blutiger Anachronismus, sondern als Anschluss an Transzendenz. Dabei schreit sich Liddell ihre Wut auch selbst ins Gesicht. Sie mache extreme Kunst, ihre Anhänger seien vor allem Schickimickis, Schwule, die ihr dann gratulierten und erklärten, wie existentiell berührt sie seien. Zum Kotzen finde sie das.
Öfters gab es im Publikum Unruhe, erstaunlicherweise jedoch nur bei den Schimpftiraden, nicht, als sich Liddell mit Blut beschmierte, in ihre Vagina griff, und sich rote und möglicherweise auch andere Flüssigkeiten aufs Brot schmierte und dieses genussvoll verzehrte. Das sich Verzehren nach Sinn, nach dionysischem Eros, nach extremer Sinnlichkeit durchzieht den Abend wie ein blutrotes Band. Wo sind die alten, neuen radikalen Künstler? Wo ist heute ein Antonin Artaud? Die Antwort wiederum fällt leicht: Liddell ist die neue Artaud(e). Allerdings glücklicherweise ohne dem wirklichen Wahnsinn des Erfinders des Theaters der Grausamkeit anheim zu fallen. Zumindest bisher. Angélica Liddells neues Projekt ist ein Ereignis, eine Messe, eine schrille Meditation. Und ein Gegenmodell zu dem, was etwa ein Frank Castorf gern stundenlang brüllend-aufgekratzt auf der Bühne zelebriert, ohne jedoch nur annähernd solch eine Intensität zu erreichen.