Foto: Lukas Graser und Laura Maria Hänsel © Philipp Ottendörfer
Text:Jens Fischer, am 21. Januar 2018
Bernhard Mikeska inszeniert „Chiffren“ von Dawn King am Theater Bielefeld
Grellweiß bis zur Sterilität ausgeleuchtet ist der Bühnenkasten. Auf den Boden gekauert und an die Rückwand gepresst: eine rätselhafte Frau. Justine! Sitzt sie in einer Ausnüchterungszelle für Wahnvorstellungen – in der Psychiatrie? Plötzlich erwacht aus ihrer Erstarrung ein weiteres Wesen, beginnt ein Bewerbungsgespräch für Spioninnen – im Geheimdienstbüro? Zwei Orte jedenfalls, aus denen nichts herausdringt und in die kaum jemand hineinkommt. So abgeschottet wirkt das Szenenbild. Zudem ist es wie ein Spiegel in Künstlergarderoben mit Glühbirnen gerahmt. Sollen wir Theater auf dem Theater als Metapher unser aller Rollenspielerei des Alltags imaginieren? Und dann sitzt da auch noch so eine fette Kaninchendame. Zwar nicht weiß wie Lewis Carrolls Verführerin ins Wunderland. Aber bestimmt ein Symbol – für Fruchtbarkeit, Ängstlichkeit, Lebensfreude, die gejagte Kreatur? Oder ein Kuscheltier und geradezu traumdeuterischer Verweis auf eine Art lesbische Lust der Protagonistin? Jedenfalls gibt es im Folgenden entsprechende, allerdings vergebliche Zärtlichkeitsgesten und eines der weiblichen Objekte tritt final auch mit Kaninchenmaske auf. Was so nicht im Text steht, also eine Idee des Regisseurs Bernhard Mikeska ist, die er zu all den anderen „Chiffren“ addiert, mit denen die britische Autorin Dawn King ihr gleichnamiges Stück so geheimnisvoll arrangiert, so dass nie klar wird, wer die immer etwas klischeehaft wirkenden Figuren wirklich sind und wem zu trauen ist. Im Geheimdienstszenario erkennen Krimifans die Metapher für eine von Lug und Trug strukturierte Realität – und das Genre Thriller als Versuch, den Durchblick zu gewinnen. Oder ist dieses Theater der Angst nur ein Angebot, durch freiwillige Identifikation mit einer unbescholtenen Kunstfigur mal wieder kribbelige Gefühle zu erleben – nämlich in eine Gefahrensituation verwickelt zu werden, in der Leben auf dem Spiel stehen? So viele Fragen – die ein eisig klarer, aber fasziniert antwortenloser Abend provoziert.
Teilweise werden die kurzen, stets gekonnt auf einen Thrill zugeschriebenen Ping-Pong-Dialoge aus gefrorenen Posen entwickelt – oder kulminieren darin. Wie es sich für die Dramaturgie des Genres gehört, offenbart sie ständig neue Puzzlesteine zur Aufklärung des verhandelten Falls – ohne dass deutlich wird, ob es Fakten oder Fake News sind. Weiter verwirrend: King hat acht Figuren entworfen – für vier Schauspieler. Und wechselt auf der Zeitachse unvorhersehbar zwischen Vor- und Rückblende.
Laura Maria Hänsel spielt beispielsweise das zentrale Schwesterpaar. Oder imaginiert als Patientin der Schizophrenie ein solches? Ohne sich beim Rollenwechsel umzuziehen, ergibt sich jedenfalls immer erst anhand der Gespräche, wer sie nun gerade sein soll. Beispielsweise Justine. Sie sucht für den MI6 nach Spuren einer islamistischen Terrorzelle, beschafft aber auch für den russischen Geheimdienst Top-secret-Material der Briten. Wobei die Arbeitgeber anfangs weder von der Doppelagentinnentätigkeit noch von Justines Liebesbeziehung zu einem Maler (Lukas Graser) wissen, der mit seiner Mäzenin verheiratet ist, die Doreen Nixdorf genauso selbstsicher gefühlskalt vorführt wie Justines MI6-Chefin. Hänsel aber gibt eben auch noch die Galeristin Kerry, die als Trauerbewältigung zum Tod ihrer Schwester Justine recherchiert. War es Selbstmord oder Mord im James-Bond-Milieu? Wobei die Zuschauer kaum mehr Informationen bekommen als Kerry. Die sich nach und nach fragt, inwieweit die Spuren des Lebens wirklich Chiffren der Identität sind – oder Ablenkungsmanöver. Was ist wirklich zu wissen über scheinbar vertraute Menschen, was über sich selbst? Das ständige Hin und Her von Justine- und Kerry-Szenen lässt einen gebannt der wendungsreichen Krimi-Aufklärung folgen, die aber in totaler Verwirrung endet. Da die Autorin für Verschwörungstheoretiker noch Verwicklungen internationalen Ausmaßes andeutet.
Das Stück ist filmreif, jede Szene präzise auf ihren Thrill hin zugeschrieben. Aber die Regie zeigt, dass ein solcher Stoff nicht die rasant geschnittene Kinoillusionsmaschinerie zur wirkungsmächtigen Darbietung benötigt, sondern temporeduziert im desillusionierenden Theaterkontext ebenso gut funktioniert. Zur Freisetzung szenischer Fantasie reicht es, den White Cube ohne Requisitenschnickschnack, nur mit neonfarbig variierender Illumination und Geräuschen zu inszenieren – etwa Geplapper-Zuspielungen zur Verortung eines Handlungsmomentes auf einer Vernissage. Auch der Aufführungsort wird als Chiffre mitgespielt, indem Hänsel sich selbst in einer Videoprojektion zuguckt, in der sie identitätssuchend zwischen Kerrys und Justines Garderobe im Backstage-Bereich herumirrt, bevor sie die Bühne des Theaters Bielefeld betritt. Wo festzuhalten ist: Wie die Darsteller zwischen ihren Rollen und agentengemäßig auch zwischen Deutsch, Russisch und Japanisch hin und her switchen, ist einfach famos. So verunsichert „Chiffren“ zwar, weil es Klarheiten beseitigt in der verwobenen Gleichzeitigkeit von Erinnerung, gegenwärtiger Ermittlung und Fantasie. Funktioniert aber prima als Sinnbild einer Welt voller geheimer Zeichen. Sie verweisen auf vieles. Aber wir wissen nichts. Wahrheit ist eh nicht möglich, könnte ein Philosoph interpretieren. Zwinkernd verabschiedet sich hingegen das Kaninchen in der letzten Videoschnipseleinspielung.