Teilweise werden die kurzen, stets gekonnt auf einen Thrill zugeschriebenen Ping-Pong-Dialoge aus gefrorenen Posen entwickelt – oder kulminieren darin. Wie es sich für die Dramaturgie des Genres gehört, offenbart sie ständig neue Puzzlesteine zur Aufklärung des verhandelten Falls – ohne dass deutlich wird, ob es Fakten oder Fake News sind. Weiter verwirrend: King hat acht Figuren entworfen – für vier Schauspieler. Und wechselt auf der Zeitachse unvorhersehbar zwischen Vor- und Rückblende.
Laura Maria Hänsel spielt beispielsweise das zentrale Schwesterpaar. Oder imaginiert als Patientin der Schizophrenie ein solches? Ohne sich beim Rollenwechsel umzuziehen, ergibt sich jedenfalls immer erst anhand der Gespräche, wer sie nun gerade sein soll. Beispielsweise Justine. Sie sucht für den MI6 nach Spuren einer islamistischen Terrorzelle, beschafft aber auch für den russischen Geheimdienst Top-secret-Material der Briten. Wobei die Arbeitgeber anfangs weder von der Doppelagentinnentätigkeit noch von Justines Liebesbeziehung zu einem Maler (Lukas Graser) wissen, der mit seiner Mäzenin verheiratet ist, die Doreen Nixdorf genauso selbstsicher gefühlskalt vorführt wie Justines MI6-Chefin. Hänsel aber gibt eben auch noch die Galeristin Kerry, die als Trauerbewältigung zum Tod ihrer Schwester Justine recherchiert. War es Selbstmord oder Mord im James-Bond-Milieu? Wobei die Zuschauer kaum mehr Informationen bekommen als Kerry. Die sich nach und nach fragt, inwieweit die Spuren des Lebens wirklich Chiffren der Identität sind – oder Ablenkungsmanöver. Was ist wirklich zu wissen über scheinbar vertraute Menschen, was über sich selbst? Das ständige Hin und Her von Justine- und Kerry-Szenen lässt einen gebannt der wendungsreichen Krimi-Aufklärung folgen, die aber in totaler Verwirrung endet. Da die Autorin für Verschwörungstheoretiker noch Verwicklungen internationalen Ausmaßes andeutet.
Das Stück ist filmreif, jede Szene präzise auf ihren Thrill hin zugeschrieben. Aber die Regie zeigt, dass ein solcher Stoff nicht die rasant geschnittene Kinoillusionsmaschinerie zur wirkungsmächtigen Darbietung benötigt, sondern temporeduziert im desillusionierenden Theaterkontext ebenso gut funktioniert. Zur Freisetzung szenischer Fantasie reicht es, den White Cube ohne Requisitenschnickschnack, nur mit neonfarbig variierender Illumination und Geräuschen zu inszenieren – etwa Geplapper-Zuspielungen zur Verortung eines Handlungsmomentes auf einer Vernissage. Auch der Aufführungsort wird als Chiffre mitgespielt, indem Hänsel sich selbst in einer Videoprojektion zuguckt, in der sie identitätssuchend zwischen Kerrys und Justines Garderobe im Backstage-Bereich herumirrt, bevor sie die Bühne des Theaters Bielefeld betritt. Wo festzuhalten ist: Wie die Darsteller zwischen ihren Rollen und agentengemäßig auch zwischen Deutsch, Russisch und Japanisch hin und her switchen, ist einfach famos. So verunsichert „Chiffren“ zwar, weil es Klarheiten beseitigt in der verwobenen Gleichzeitigkeit von Erinnerung, gegenwärtiger Ermittlung und Fantasie. Funktioniert aber prima als Sinnbild einer Welt voller geheimer Zeichen. Sie verweisen auf vieles. Aber wir wissen nichts. Wahrheit ist eh nicht möglich, könnte ein Philosoph interpretieren. Zwinkernd verabschiedet sich hingegen das Kaninchen in der letzten Videoschnipseleinspielung.