Foto: vorn v.l.: Thomas Essl, Elisabeth Dopheide, Paula Meisinger; hinten: Daniel Pataky © Nasser Hashemi
Text:Roland H. Dippel, am 9. Februar 2025
Gustave Charpentiers „Louise“ wird am Theater Chemnitz von Regisseurin Rahel Thiel beklemmend inszeniert. Louises Flucht vor der Gewohnheitsehe der Eltern und Juliens Montmatre-Gemeinschaft wird begleitet von Maximilian Ottos auf Blechbläser fokussiertes Dirigat.
Gustave Charpentiers Hauptwerk hat international eine hochkarätige Aufführungs- und Tonträgergeschichte. Der Nachfolger Jules Massenets als Kompositionsprofessor des Konservatoriums von Paris nahm an seinem am 2. Februar 1900 an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführten Welterfolg „Louise“ regen Anteil, ermöglichte aus den üppigen Tantiemen armen Arbeiterinnen Opernbesuche und gründete die Stiftung Oeuvre Mimi Pinson, durch welche junge Frauen Musik- und Tanzunterricht erhielten. In Chemnitz war das Publikum von der Musik und dem äußerst geschickten wie sezierenden szenischen Wurf zutiefst beeindruckt.
Mit fast 1000 Vorstellungen allein in Paris bis 1956 verträgt dieses hierzulande viel zu selten gespielte Erfolgsstück des französischen Musiktheaters Tiefenbohrungen an Inhalt und Poesie, fordert diese sogar heraus. Der gebürtige Chemnitzer Maximilian Otto reizte mit der Robert-Schumann-Philharmonie in der offenen Akustik des Opernhauses die brillante Dynamik und Dramatik des um 1900 eigenwillig dastehenden „musikalischen Romans“ aus. Er bevorzugte das strahlende Licht der Blechbläser mehr als die ebenfalls in der Musik steckende Streicherdämmern. Damit passte sein Dirigat gut zur glasklaren Diagnostik der Figuren durch Rahel Thiel.
Dichterin Louise
Diese malte im Opernhaus allerdings keine Psycho-Apokalypsen wie John Dew in Dortmund und Christof Loy bei den schon länger zurückliegenden letzten Produktionen in Deutschland. Dew hatte Charpentiers „Julien“, den zweiten Teil von „Louise”, angekoppelt und in diesem Tenor-Marathon für den damals im Karrierezenit agierenden Norbert Schmittberg einen Alptraum misslingender Vergangenheitsbewältigung gesetzt. Später machte Loy Louise zu einem Missbrauchsopfer ihres Vaters, welche im Wartezimmer ihres Therapeuten Zeugin von vielerlei Schicksalen wird und diese in ihrer kaputten Psyche weiterspinnt.
Bei Thiel schreibt und dichtet seltener der Montparnassien Julien als Louise selbst. An einer Schreibmaschine distanziert Louise sich von der penibel sauberen Familienhölle und deren abstoßend nüchternem Lebensraum. Blässlich sind darin auch die hellbeige Bluse der Mutter und der hellbeige Blouson des Vaters. Sonst alles blitzblank und dahinter ein sinnlich lockendes Schwarz.
![Louise Chemnitz](https://www.die-deutsche-buehne.de/wp-content/uploads/2025/02/PR15_Louise__C__Nasser_Hashemi-1024x683.jpg)
Elisabeth Dopheide, Ensemble. Foto: Nasser Hashemi
Details verraten viel, sei es eine impulsive unbeherrschte Ohrfeige der Mutter oder der traurig wirkende, pomadisierte Scheitel des Vaters. Das Kind soll die Fehler der Eltern vermeiden und deren stumpfes Eheleben zu schätzen wissen. Louise will aber raus, nur zu gut verständlich. Das ganze Stück quält sie sich im blauen, kittelschürzenartigen Kleidchen, das auch auf dem Montmatre beim Geliebten Julien nur zu sexuellen Handlungen fällt.
Louises Hölle
Als Louise dann den Spieß umdreht und – übrigens sehr genau an Charpentiers Textbuch präzisiert – aus eigenem Antrieb den Geschlechtsakt fordert, spielt die Psyche Louise einen Streich und es geht auch das schief. Da ist Louise dann alles verleitet: Die mit schablonisierten Feinritualen minutiös organisierte Gewohnheitshölle der Eltern, aber auch die von Julien angeführte Montmatre-Gemeinschaft, welche die von ihr als inthronisierter Bohème-Königin die allzeit bereite Verfügbarkeit erwartet. Musikalische Apotheose und Beklemmung explodieren zeitgleich. Danach könnte man den sanften Vorwurfsjammer des Vaters im Schlussbild (berückend sensibel gesungen von Thomas Essl) fast für balsamischen Seelentrost halten. Von fataler Logik ist Thiels Porträt der Mutter: Paula Meisinger gibt eine blondgestählte Frau, die seelische Wunden hinter gepanzerter Rubustheit und kerngesunder Stimme verbirgt.
Vater und Liebhaber treten nie zusammen auf. Diese signifikante Kluft wird noch deutlicher, wenn hier Felix Rohleder als Episodenfigur anstelle des Vaters beim Fest der Bohémiens dessen sehnsuchtskrankes Solo singt. In Ottos klar fokussiertem, nicht immer auf Sänger und akzentuierende Dringlichkeiten des Textes eingehenden Orchesterton fällt Elisabeth Dopheide die Zielgerade ins hymnische Leuchtfeuer der zum Galastück gewordenen Arie „Depuis le jour“ schwer. Als Darstellerin gestaltet Dopheide Louises Fluchtenergien, das Innehalten und die Zweifel beeindruckend. Der Julien von Daniel Pataky ist ein betörend und kraftvoll singender Bilderbuch-Bohémien mit nobler Haltung, Eloquenz und kluger Emphase. So wie ihn Louise herbeifabuliert, versteht er sie besser als sie sich selbst. Thomas Kiechle und Etienne Walch agieren an der Spitze eines Ensembles mit perfekt besetzten Nebenpartien.
Abweichung von Charpentier
Bei Charpentier wird Louises Liebe zu Julien mit ihrer Sehnsucht nach dem freien Pariser Leben zum Synonym. Hier nicht. In der Schneiderei-Szene tippt eine ganze Schar von Louise-Doppelgängerinnen auf Schreibmaschinen. Die vielen kleinen Solopartien, mit denen Charpentier das urbane Biotop feiert, gerät zu einer queer-freundlichen Gemeinschaft in Pink, Flieder und Cognac. Die Bühne von Volker Thiele und die Kostüme von Rebekka Dornhege Reyes haben trotz des Prospekts mit einer der Straße hinauf zu Basilika Sacré-Cœur eine von Sinnlichkeit weit entfernte Strenge. Die Bohémiens mit ihren Kindern formieren sich wie zu einer offiziellen Jubelstatisterie und es scheint unfassbar, dass Rahel Thiel vor einem Jahr an der Musikalischen Komödie Leipzig Lortzings „Hans Sachs“ als heiter bis lockeres Glücksspiel inszenierte. Für die einzige große Chorszene wurden zahlenstarke, intensiv singende Personalgeschütze mit Opern- und Kinderchor aufgefahren.