Foto: Santiago Sánchez (Lenskij), Johannes Mertes (Triquet), Carl Rumstadt (Onegin), Charlotte Quadt (Olga), Chor des Theater Bonn © Sandra Then
Text:Ulrike Kolter, am 4. März 2024
Am Theater Bonn inszeniert Vasily Barkhatov einen lebendigen „Eugen Onegin“ und führt den Chor zu szenischen Höchstleistungen. So erfährt die Tragödie eine Leichtigkeit, wie man sie im Theater viel zu selten erlebt.
Wie kann doch große Oper amüsieren, wenn ein Regisseur so akribisch und liebevoll die musikalischen Ideen einer Partitur und ihrer Figuren ernstzunehmen weiß. Detailreich und humorvoll pointiert erzählt uns Vasily Barkhatov einen zeitlosen „Eugen Onegin“ – und gestaltet den Abend am Theater Bonn vor allem als wahnsinnig lebendige Chor-Oper. Trotz aller emotionalen Tragik, die Tatjana und Onegin, Lenskij und Olga durchleben, prägt Barkhatovs Inszenierung eine große Leichtigkeit. Man kann sich nicht sattsehen an all den szenischen Miniaturen, und die Zeit vergeht wie im Flug…
Rodelparty und Schneeballschlacht
Das Gutshaus, in dem Witwe Larina (Eva Vogel) mit ihren Töchtern Olga und Tatjana lebt, wirkt mit abgedecktem Flügel und herumliegenden Koffern heimelig trotz der grauen, holzvertäfelten Wände (Bühne: Zinovy Margolin). Die einsehbare Küche linker Hand ist ein abgegrenzter Raum für intime Dialoge oder kontemplative Momente und schiebt sich gelegentlich zur Seite, wie auch die hintere Hauswand sich öffnet, um den Blick auf eine riesige Holzschräge freizugeben: Hier erleben wir zu Beginn des 2. Aktes eine musikalisch perfekt getimte Schlitten-Rodelparty mit Schneeballschlacht, in bunten Pelzmänteln und Fellmützen. Eine Austattungs-Augenweide und Meisterleistung des Chores (Kostüme: Olga Shaishmelashvili, Choreinstudierung: Marco Medved). Der Ball zu Ehren Tatjanas wird so zum stimmungsgeladenen Volksfest mit Grog am Holzofen, während die Gutsfamilie in der Küche erstmal Schampus schlürft…
Links die Küche mit Lenskij, Filipjewna, Larina, Onegin und Tatjana, rechts das Volk im Winter. Foto: Sandra Then
Doch bei allem Amüsement zeigt Barkhatov die Entwicklung der Figuren sehr empathisch: Wenn Onegin – aus der Küche kommend – verlacht und mit Schneebällen beworfen wird, ahnt man schon, wohin das führen muss. Auch gerät das Duell, bei dem Lenskij seine Schmach an Onegin rächen muss, weniger zum artifiziellen Ritual als zum ungeplanten Gruppengerangel, in dem Lenskij rückwärts abstürzt: Kein Schuss, keine Rache, nur ein tödlicher Unfall. Ziemlich menschlich das – und uns heute allemal nachvollziehbarer als eifersuchtsbedingtes, gegenseitiges Abknallen wie beim historischen Duellieren.
Eine charakterstarke Olga
Auch die Szenen im ersten Akt geraten nie statisch, da ist ein Kommen und Gehen der Paare, stets motiviert und musikalisch beglaubigt. Charlotte Quadt gibt eine bildhübsche, charakterstarke Olga, die an den Tagträumen ihrer Schwester fast verzweifelt und schon mal wutentbrannt mit Tellern schmeißt. Anna Princeva als Tatjana bleibt neben ihr fast blass, beglaubigt ihre Partie eher mit Sensibilität. Santiago Sánchez ist ein ungestüm-jugendlicher Lenskij, während Giorgos Kanaris als Onegin zögerlich scheint, vor allem im 3. Akt dann auftrumpft.
Eva Vogel (Larina), Charlotte Quadt (Olga), Rena Kleifeld (Filipjewna), Ana Princeva (Tatjana). Foto: Sandra Then
Eva Vogel (Gutsbesitzerin Larina) und Rena Kleifeld (Amme Filipjewna) ergänzen das überzeugende Ensemble neben Johannes Mertes als Monsieur Triquet, der die Strophen seines Couplets variantenreich verziert. Und wie Pavel Kudinov das tiefe Ges in seiner Arie des Fürsten Gremin eine schiere Ewigkeit auskostet, lässt das Publikum in Jubelstürme ausbrechen.
Leider bleiben viele Stimmen seltsam gedämpft, was der teils nach hinten offenen Bühne anzulasten sein mag. Vollends begeistert hingegen das Dirigat des 1. Kapellmeisters Hermes Helfricht, der das Beethoven Orchester Bonn zart und sehr tänzerisch leitet, dabei alle Dynamikwechsel im Dienst der Sänger:innen gestaltet.
Der Bahnhof als Wartesaal des Lebens
Wie isoliert von der Welt Onegin – nach jahrelangem Reisen und dem Tod des Freundes – ist, dafür findet Vasily Barkhatov im 3. Akt eine treffliche Allegorie: Im Wartesaal eines Bahnhofs schwirren Reisende umher, während seitlich abgesperrt ein elitärer Sektempfang stattfindet. Hier zeigt ihm Fürstin Tatjana die kalte Schulter, ihre letzten Worte wechseln beide Rücken an Rücken auf einer Bank, während Gremin im Hintergrund geduldig rauchend am Gleis wartet. Das ist großes Kino, perfektes Szenenarrangement, aber mehr noch: Es berührt. Und das sollte Theater – bei allem Anspruch auf politische und aktuelle Rekursnahme – doch immer. Standing Ovations!