Existenzkampf und soziales Gefälle

André Previn: Endstation Sehnsucht (A Streetcar Named Desire)

Theater:Theater Bielefeld, Premiere:07.12.2024Regie:Wolfgang Nägele Musikalische Leitung:Anne Hinrichsen

André PrevinsEndstation Sehnsucht (A Streetcar Named Desire)“ thematisiert die Grausamkeit von Vergewaltigung und dessen Folgen. Am Theater Bielefeld zeigt Wolfgang Nägele die Diskrepanz zwischen Existenzkampf des Proletariats und elitären Attitüden.

Die Brutalität von Vergewaltigungen ist nicht auszuhalten. Roh und in Siegerpose über die von ihm verachtete Frau, erniedrigt Stanley Kowalski seine Schwägerin Blanche in Grund und Boden. Die Frage nach der Notwendigkeit von Fachleuten für Intimitätskoordination beantwortet sich auf Bielefelds Bühne. Ohne Expertin Magz Barrawasser wäre die Drastik der Szene kaum zu realisieren gewesen. Im Verein mit Regisseur Wolfgang Nägele gelingt ihr, das Entsetzliche zu zeigen und zugleich die Spielenden vor jedem Anflug von Voyeurismus zu schützen: Es bedarf keiner nackten Tatsachen, um die Grausamkeit des Verbrechens zu beglaubigen. Einer zweiten Vergewaltigung kommt gleich, wenn kurz darauf Blanche eine Beruhigungsspritze verabreicht wird, um sie in die einzige ihr noch verbleibende Zuflucht einzuliefern, die Psychatrie.

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Aus der Zeit gefallen

Keine Frage, Blanche DuBois ist ein lebender Atavismus. Elitebewusstsein, Umgangsformen, das Mondäne und Kapriziöse gehören einer untergegangenen Welt an. Ballgeflüster und Landpartien sind passé. Da es an Partnern für den aristokratischen Flirt fehlt, sucht die sozial gesunkene Gutsbesitzerstochter Männer des Proletariats zu bezaubern. Die aber verstehen die kommunikativen Codes der einstigen Southern Belle nicht zu deuten. Oder versagen sich ihnen. Wie Stanley Kowalski, in dem das Auseinanderklaffen von elitärem Selbstbild und Gehabe einerseits und materieller Substanzlosigkeit andererseits die Weißglut entfacht. Zumal sich seine Frau – Blanches Schwester Stella – komplett der elitären Attitüde entschlagen und den Gewohnheiten des Proletariats angepasst hat. Nägele beobachtet alles dies genauestens.

Endstation Sehnsucht Bielefeld

Southern Belle in proletarischer Wohnküche. Lorin Wey, Dusica Bijelic. Foto: Bettina Stöss

Die Lage eskaliert Stufe um Stufe. Kowalskis Verachtung und Boshaftigkeiten streifen fortschreitend die Hemmschuhe ab. Die zunächst verbale Drohgebärde steigert sich zu dann auch körperlicher Zudringlichkeit und bis in den Exzess der Vergewaltigung hinein. Jene schäbige Proletarierwohnung aus Wohnküche, Schlafzimmer und Bad, in der Stefan Mayer die Geschehen ansiedelt, atmet geradezu den Brodem von Existenzkampf, Machismo und sexueller Aufladung. Mayers Kostüme holen die Figuren ins Heute. Todschick und in Designerhosenanzug und Abendrobe zugleich völlig deplatziert begegnet Blanche einem Milieu, das sich modisch im Niedrigpreissegment bedient.

Phänomenales Ensemble

Musikalisch überzeugt der Abend vor allem vokal. Bei Anne Hinrichsen und den Bielefelder Philharmonikern entlädt sich das aggressive Potential des 1998 in San Francisco uraufgeführten Werks vollauf. Gewaltärmeren Passagen bekommt solche Kompaktheit weniger. Phänomenal die Blanche DuBois der Dušica Bijelić. Scarlett O’Hara und Tosca standen Patin. Stimme und Spiel tauchen die Figur in die strahlende Erscheinung von gestern und das fahle Licht von heute. Cornelie Isenbürger führt Blanches Schwester Stella Kowalski auf pragmatischer und dazu passend sanglich gerader Linie. Seinem Kavalierbariton ringt Todd Boyce die spielerisch noch unterstrichene denkbarste Brutalität ab. Glaubhaft irritiert, verkörpert Lorin Wey den überforderten Harold Mitchell.