Foto: "Brennpunkt X" in Saarbrücken © Thomas M. Jauk/StagePicture
Text:Vanessa Renner, am 15. Juni 2015
Wie gehen wir in Deutschland mit Flüchtlingen um, die auf der Suche nach Schutz zu uns kommen? Das Thema ist nicht neu. Als Theaterstoff wurde es in dieser Spielzeit auf einigen Bühnen verhandelt. Ist die Frage deshalb weniger drängend? Keineswegs. Das Saarländische Staatstheater zeigt mit der Uraufführung „Brennpunkt: X“ von Nuran David Calis ein Stück, das auf beeindruckende Weise mit dem Thema umgeht. Es erzählt nicht die Geschichten und Schicksale von Menschen, sondern macht sie spürbar. Dabei kommt die Inszenierung von Regisseur Jörg Wesemüller dem Publikum bedrückend nahe und entlässt es nicht aus der Verantwortung. Kurzum ein Stück, dem viele Zuschauer zu wünschen sind.
Calis hat für „Brennpunkt: X“ im Saarland zur Situation der Flüchtlinge und der Stimmung in der Gesellschaft recherchiert. Aus Gesprächen mit der Bevölkerung, Flüchtlingen, Sozialarbeitern und Ehrenamtlichen entwirft er ein Bild von Menschen, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten und doch nicht ankommen dürfen. Von überfüllten Anlaufstellen und deren überforderten Mitarbeitern. Von Bürokratie, die rasche Hilfe verhindert. Von Euphemismen, die Missstände verschleiern. Von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Und immer wieder Angst. Angst, abgeschoben zu werden. Berührungsängste der Bevölkerung vor Ort. Abstiegsängste, die rechte Parteien und Bewegungen mit ihren Parolen schüren.
Im Erweiterungsbau des Saarlandmuseums hat Jasna Bošnjak einen Raum gestaltet, der dem Zuschauer das Gefühl von eisiger Anonymität und bedrückender Enge vermittelt. An der Hinterwand baumeln Unmengen brauner Hängeordner von der Decke. Eine Stimme aus dem Lautsprecher informiert über die Hausordnung der Flüchtlingsaufnahmestelle: Fritteusen in den Zimmern verboten. Wer dagegen verstößt, verliert einen Waschtag. Auf eine Leinwand wird per Kamera das Bild eines kleinen Nebenraums übertragen – ein Nachbau einer Gemeinschaftsunterkunft. 18 Quadratmeter für vier Menschen. Ohne Bad, keine Privatsphäre, Kontrollen. Dennoch fällt das Wort „Paradies“. Das Paradies, nicht gefoltert zu werden, nicht im Krieg zu leben, seine Familie in Sicherheit zu wissen.
Gemeinsam mit den Schauspielern des Ensembles stehen sieben Laien aus Syrien und dem Iran auf der Bühne. Sie geben den Geschichten von Verfolgung und Flucht ein Gesicht, zeigen Menschen mit Mut, Stärke und Hoffnung. Ambivalent zeichnet das Stück die Situation der Mitarbeiter der Aufnahmestelle. Zwischen Überforderung, Zynismus und dem Wunsch, helfen zu können, fühlen sie sich gefangen in Paragraphen und Vorschriften, die sie erfüllen müssen. Doch: Die Politik sind wir, ruft die Praktikantin wütend ihren Kollegen in der Gemeinschaftsunterkunft zu.
Kurz vor Ende der Premiere in Saarbrücken bricht die Realität in das Stück ein. Einen Zuschauer erreicht ein Anruf aus seiner Heimat Syrien mit der Nachricht, das Haus eines Verwandten sei von Bomben getroffen worden und ein Angehöriger ums Leben gekommen. Aus diesem Grund entscheidet das Ensemble, ein anderes als das geplante Ende zu spielen, und bittet, auf Applaus zu verzichten. Ein erschütterndes Ereignis. Es verdeutlicht, dass das, was wir vom Theaterstuhl aus betrachten im selben Moment für viele Menschen Wirklichkeit bedeutet.