Foto: "Tritte" mit Anne Tismer © David Baltzer
Text:Barbara Behrendt, am 11. November 2017
Samuel Beckett / Tino Sehgal an der Volksbühne Berlin
Kein Kulturevent in Berlin, das unter größerer und skeptischerer Beobachtung stand als die Eröffnung des Stammhauses der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Der Abend beginnt im großen Saal unter dichtem Promi-Aufgebot mit einem Mini-Auftakt des bildenden Künstlers Tino Sehgal: laute E-Gitarren, flackendes Licht, der riesige Kronleuchter fährt ein paar Meter von der Decke herab – dann ist es auch schon vorbei und die Zuschauer werden für die nächsten anderthalb Stunden durch die Foyers geschickt. Videoaufzeichnungen von Beckett-Arbeiten sind zu sehen und, im Haus verteilt, ältere Performances von Sehgal.
Darunter auch solche, die bereits bei dessen Retrospektive im Berliner Martin Gropius Bau gelaufen sind: „Ann Lee“ zum Beispiel – ein Mädchen, das eine Manga-Figur darstellt. Sie erzählt den Zuschauern aus ihrem Leben als Kunstfigur und interagiert mit dem Publikum. Eigentlich eine schöne, berührende Arbeit von Sehgal – die aber, das ist das Problem, einen konzentrierten Raum braucht, wie er nur im Museum zur Verfügung steht. In der Volksbühne, in der sich ein paar hundert Menschen bei dieser Eröffnung mit Weingläsern und Bierflaschen lautstark durchs Foyer bewegen, geht die Performance vollkommen unter. Man konnte noch so nah vor Ann Lee sitzen – verstanden hat man sie kaum.
Im Saal dann im Anschluss Walter Asmus’ Inszenierung von drei späten Beckett-Einaktern. Asmus ist mit seinen 76 Jahren ein Beckett-Kenner der ersten Stunde, hat damals mit ihm zusammengearbeitet. Dercons Entscheidung, ausgerechnet mit ihm und Samuel Beckett zu starten, hat ähnliche Gründe wie die Eröffnung mit Werken aus der Tanzgeschichte auf dem Tempelhofer Feld im September: Die neue Volksbühne möchte, so die Künstlerische Leiterin Marietta Piekenbrock, Werke aus der Vergangenheit zeigen, die Epochenbrüche ausgelöst haben, um so zu neuen zeitgenössischen Positionen zu finden. Becketts Werk zählt mit Sicherheit zu den bahnbrechenden der Theatergeschichte – eine durchaus spannende Idee, gerade heute, da das Theater möglichst politisch tagesaktuell sein möchte, auf den historischen Zusammenhang zu verweisen.
Andererseits: Das Theater ist nun einmal kein Museum. Sondern das Medium, das sich wie kein anderes mit Gesellschaft auseinanderzusetzen hat, da es live mit dieser Gesellschaft im Zuschauerraum interagiert. Holt man die alten Stoffe auf die Bühne, sollte man wissen, was sie uns noch zu sagen haben.
„He, Joe“ (1965), „Nicht ich“ (1972) und „Tritte“ (1975) sind späte Kurztexte Becketts, allesamt Kopfinnenraumstücke, in denen nur die Erinnerung, der Schmerz, die Schuld aus den Figuren spricht – in Form eines Monologs mit sich selbst, einem repetitiven Rauschen im Kopf. Das ist unsagbar düster und trostlos – aber durchaus existenziell. Die theatrale Form allerdings, in der Beckett das inszeniert sehen will, war zwar zu seiner Zeit radikal, kommt einem heute jedoch eher abseitig und museal vor. In „Nicht ich“ soll auf einer komplett schwarzen Bühne nichts als ein sprechender Mund zu sehen sein. In „Tritte“ muss die mit sich und ihrer toten Mutter sprechende Frau eine exakte Anzahl von Schritten auf und ab gehen und sich in einer genau definierten Richtung drehen. In „He, Joe“, eigentlich ein Fernsehspiel, darf der stumme Darsteller allein seine Mimik variieren, sich nicht bewegen, während er der Stimme in seinem Kopf lauscht.
Fast genau so inszeniert es denn auch Walter Asmus: Um den Raum rabenschwarz zu halten, werden sogar die Leuchten der Notausgänge abgeschaltet. Und bei „Nicht ich“ ist auf der riesigen Volksbühne tatsächlich nur der winzige Mund der Schauspielerin Anne Tismer angeleuchtet, der hinterm schwarzen Vorhang herausschaut.
Anne Tismer hat vor 15 Jahren an der Schaubühne mit Thomas Ostermeier Erfolge gefeiert und steht nun seit langem wieder auf der großen Bühne eines Stadttheaters. Mehr als ihren Mund bekommt man in „Tritte“ zu sehen: Hier schlurft sie wie ein Gespenst, gebückt und gebrochen, von rechts nach links. Was die Darstellung anbelangt ist das arg melodramatisch. Ein Genuss jedoch zuzuhören, mit welcher Intensität, Präzision, Klarheit, auch Energie sie die Beckettsche Sprache herausschleudert, dann wieder herauswürgt oder kurz vor dem Verstummen aushaucht. Man möchte sie gern auch in anderen Zusammenhängen wieder spielen sehen.
Nichtsdestotrotz haben die Beckettschen Regie-Experimente, denen Walter Asmus hier Rechnung trägt, wenig mit Schauspiel zu tun. Schon in Reihe acht erkennt man Tismers Mund nicht mehr und kann als Beckett-Laie nur raten, was dieses beleuchtete Etwas darstellen könnte. In „He, Joe“ muss das wunderbar zerfurchte Gesicht des dänischen Schauspielstars Morten Grunwald, ähnlich wie in Becketts Fernsehspiel, groß projiziert werden, damit man dessen nuancenreiche Mimik überhaupt erkennt. Diese Einakter sind weder für die große Bühne noch für Theaterschauspieler geeignet.
Man kann also beim besten Willen nicht von einem runden, gelungenen Volksbühnen-Auftakt sprechen. Nach vier Stunden verlässt man das Haus am Rosa-Luxenburg-Platz mit großen Fragezeichen: Was ist es, das Samuel Beckett und Tino Sehgal an diesem Abend nun wirklich zusammenbringen soll? Sehgals Arbeiten, das ist überdeutlich, sind trotz mancher Zuschauer-Interaktion fürs Museum konzipiert. Becketts späte Kurzstücke sind Formexperimente, die auf dem Bildschirm besser zur Geltung kommen als auf die weite Distanz. Mit dem Theaterraum scheint das neue Volksbühnen-Team bislang nicht gut umgehen zu können. Noch dazu ein fragwürdiges Signal, die neue Intendanz mit bereits andernorts gezeigten Arbeiten von Sehgal und Asmus beginnen zu lassen: Nur der kleine Kronleuchter-Auftakt Sehgals kann streng genommen als Premiere gelten. Dessen Performances wurden jedoch lediglich fürs Eröffnungswochenende gebucht – die Inszenierung von Walter Asmus wandert ohne Sehgal ins Repertoire. Konzeptionell und ästhetisch ist das zu wenig für den Auftakt eines so bedeutenden Hauses.