Foto: Maja Beckmann als Ajax © Krafft Angerer
Text:Detlev Baur, am 16. Januar 2025
Christopher Rüping hat sich in „Ajax und der Schwan der Scham“ wieder einem antiken Stoff zugewandt. Die Inszenierung am Hamburger Thalia Theater ist extrem komplex und hat dabei viel Witz.
Maja Beckmann beginnt mit engagierten, etwas übermotiviert wirkenden Fitnessübungen auf der leeren Bühne (Jonathan Merz). Sie erscheint dabei vervielfacht durch Liveaufnahmen, die auf einen großen Bildschirm übertragen werden (Video: Emma Lou Herrmann, Live-Video: Lilli Thalgott, Linda Verweyen). Als die Kameraperspektive schwenkt, ist zu sehen, dass hier eine Videoüberwachung hinter der Bühnentür durch die Göttin Athene (Maike Knirsch) und deren Schützling Odysseus (Nils Kahnwald) stattfindet. Als Odysseus dann auf die Bühne gekommen ist und erste Wortgeplänkel um Bildungsstand, Anerkennung und öffentlicher Ehrung zwischen ihm und Beckmann als Heldin Ajax ausgetragen sind, schwebt eine Leinwand vom Bühnenboden herab.
Tragödie als komplexer Comic
Sie zeigt auf einem gewagten collagierten Tableau Kampfszenen von antiken Vasenbildern, übermalte Statuenabbildungen und Tierkörper. Das Drama wird da zum vielschichtigen Comic über das Sophokles-Drama um Ajax, Griechenlands Superheld Nummer 2 vor Troja. Der, so erfahren wir bei der Bilderläuterung von Beckmann, erhält nicht die ihm zustehende goldene Rüstung des gefallenen Achill. Vielmehr wird die gewichtige Auszeichnung in einem dubiosen Verfahren dem zurückhaltenden Kämpfer Odysseus zugesprochen. Maja Beckmann verbindet in ihren Erklärungen die Bitternis des nicht angemessen gewürdigten Helden mit der Resignation der in einer Klassengesellschaft zu kurz Gekommenen.
Anders als die große Mehrheit des Publikums – so ergibt eine scheinbar launige Befragung – hat sie kein Abitur, geschweige denn einen Hochschulabschluss und glaubt dennoch Großes für die Gemeinschaft geleistet zu haben. Maja Beckmanns Spiel ist zugleich subtil und nimmt unerschrocken den Kontakt mit dem Publikum auf. Nils Kahnwald zeigt dagegen einen anfangs wenig enthusiastischen Spielverderber, der nach und nach seine Macherqualitäten als „listenreicher Fuchs“ entwickelt, später sich als erbarmungsloser Direktor des Performancebetriebs entpuppt. Unter Einbeziehung der Zuschauer:innen als Mithörende und Angesprochene entwickeln die sehr frei auf die antike Tragödie bezugnehmenden Dialoge der beiden Protagonisten einen großen Witz.
Blutbad-Bild
Kühl und fast pflichtschuldig schreitet die frustrierte Ajax dann zur Revision des ersten Bildes, und verübt einen Amoklauf im eigenen Heer: Sie platziert eine Leinwand auf dem Boden und nutzt den widerstandslosen Körper des Odysseus als „Pinsel“ für ein Gemälde, indem sie ihn, von durch Störgeräuschen durchbrochenem aggressivem Rap (Musik: Christoph Hart), mit immer neuen Eimern aus roter Farbe traktiert und auf dem glitschig gewordenen Boden herumzieht. Das Blutbad deutet eine Vergewaltigung an und ergibt schließlich, nachdem die Leinwand hochgezogen wurde, das wenig romantische, rottriefende Bild eines Herzens.
Die Besetzung des gefallenen Helden mit einer Frau weitet in der Umschreibung des Stücks am Hamburger Thalia Theater den Horizont des Dramas. Ohne das im besten Sinne erdende Spiel der beiden Protagonisten, führte diese Weitung leicht in eine unverbindliche Konzeptlastigkeit. Zudem füllen Rüping und das fünfköpfige Ensemble auch die folgende Abhandlung des Würdeverlusts des Ajax nach dem stilisierten Gewaltausbruch nicht mit ausgiebigen Klagen, wie es in der antiken Tragödie Tradition hat. Vielmehr suchen sie weiterhin das Gespräch in einer Gesellschaft von gottlosen Selbstverwirklichern. Hans Löw betritt aus dem Zuschauerraum heraus als Gefährte der Ajax die Bühne und erinnert sie an ihre Verantwortung für das – hier aus einem Pullover zusammengewickelte – gemeinsame Kind.
Neue Gottheit KI
Das Ende von Ajax liegt im freiwilligen Sturz ins Schwert, so hat es Athene beschlossen und Odysseus zu inszenieren. Doch die moderne Ajax verweigert sich der Selbstopferung; und dies tut auch ihr schnell organisierter Opfer-Ersatz (Pauline Rénevier). Damit kommt auch die Ebene von Besetzungsfragen für Schauspieler:innen ins Spiel. Pauline Rénevier spielt die Balletttänzerin Sarah Lane, die Natalie Portman in Tanzszenen des Hollywoodfilms „The Black Swan“ doubelte und dafür zunächst keinerlei öffentliche Anerkennung erfuhr. So wie damals das Gesicht der bekannten Schauspielerin auf den Körper der Tänzerin projiziert wurde, sehen wir nun im Live-Film plötzlich Portmans Gesicht von damals auf Sarah Lanes Kopf projiziert.
Schließlich segelt Athene mit schwarzen (Schwanen-)Flügeln auf die Bühne und will in Anlehnung an die „Orestie“ endlich Ordnung schaffen und Demut in einer Ich-süchtigen Gesellschaft verbreiten. (Hier die Kritik zu Christopher Rüpings großer „Orestie“-Inszenierung.) Und dabei helfen gegen die renitenten Ich-Darsteller die neuen göttlichen Möglichkeiten der Technik: Denn jedes Indiviuum wird ersetzbar. Am Ende springt Maike Knirschs Athene mit Maja Beckmanns gealtertem Gesicht eben selbst in den Tod, als offen erkennbares Fake.
All das mag sehr kompliziert klingen, womöglich überfrachtet – und das ist es auch. Fragen von Anerkennung und dem Umgang mit öffentlicher Schande, Frust und Gewalt bis hin zu Amoktaten werden in „Ajax und der Schwan der Scham“ aufgebracht und mit der digitalen Kopierbarkeit von Identität verbunden, nebenbei noch Fragen von Gerechtigkeit im Theaterbetrieb oder der Gefährdung von menschlichen Darsteller:innen durch KI-Technik angerissen.
Auch wenn die kluge Inszenierung damit nicht die Kraft von Rüpings Bochumer Romanadaption der letzten Spielzeit erreicht, bietet die gut zweistündige Inszenierung dennoch eine spielfreudige Unterhaltung, die eine antike Geschichte zu einem Spiel im Heute wandelt. Das ist geistreich, mitunter komisch und stellt zentrale Fragen unserer Gegenwart. Neben den organisch klingenden Dialogen und dem großartigen Spiel um Maja Beckmann herum spielen dabei neben Technik und Bühne auch die so schlüssigen wie emblematischen Kostüme (Lene Schwind) eine tragende Rolle.
Hier die Kritik zu einer „Ajax“-Inszenierung der letzten Spielzeit: Jan Gehlers Uraufführung von Thomas Freyers „Ajax“