Foto: Maja Schöne und Jirka Zett in „Schande”. © Armin Smailovic
Text:Jens Fischer, am 20. Januar 2024
Ingmar Bergmans Poetik der „Schande“ erreicht am Thalia Theater nicht sein Potenzial. Trotz radikaler Inszenierung von Kontrasten von Mattias Andersson bleibt die Moral der Beziehungs-, Kriegs- oder Menschheitsgeschichte doch individuell.
Ein Musikerpaar flieht aufs Land, ans Meer und versucht sich in zweisamer Idylle mit Kunst, Liebe und ein bisschen Gärtnerei narzisstisch zu räkeln. Aber ein immer näher rückender Krieg macht die schicke Langeweile des eitlen Aussteigertums unmöglich. Klar, das passiert in Ingmar Bergmans Drehbuch zum Film „Skammen“ („Schande“, 1968). Eine Ehe wird in ihre Bestandteile zerlegt: zwei inkompatible Ichlinge. An diesem Bergman-Topos ändert auch Regisseur/Autor Mattias Andersson, Intendant des Stockholmer „Dramaten“, nichts bei seinem Versuch, den Text ins Hier und Heute zu überschreiben. Er betont aber die Besonderheit des Stoffs. Die Protagonisten scheitern eben nicht nur aus sich selbst heraus. Sondern die zunehmend auf sie eindringende Brutalität undurchsichtiger Kräfte der sozialen Wirklichkeit wirkt wie ein Katalysator, die abgründigen Aspekte der Persönlichkeiten und verdrängte Konflikte ans Tageslicht zu bringen.
Ulla Kassius stattet die offene Bühne wie die Musterwohnung eines schwedischen Möbelhauses aus, also ohne Wände. Die stilvolle Gemütlichkeit ist eben ungeschützt und das Kammerdrama öffnet sich zur Umwelt. Jirka Zetts Jan gibt dabei den schlurfigen Loser, Maja Schönes Eva ist die tatkräftige Macherin. Der Abend startet als klassisch knatschiger Beziehungsclinch mit gegenseitigen Vorwürfen. Ohne die intensivierende Kadrierung und endlos changierenden Grautöne der Filmbilder von Sven Nykvist plätschert das recht spannungslos in alltagsöder Beiläufigkeit dahin. Alarmsirenen stören dann die Szenen einer Ehe und Anderssons Hang zur Überdeutlichkeit setzt ein erstes Zeichen. Jan bekommt einen Wein-, Eva einen Wutanfall ob seiner Untätigkeit im Klima wachsender Ungewissheit. Ein Kuss kittet notdürftig die Zerrissenheit.
Wenig Raum für Rollenentwicklung
Nächste Störung: Nachbar Jacobi (Bernd Grawert) schaut im Nahkampfkostüm vorbei, behauptet mit diabolischem Understatement seine Macht, Geld, und Befehlsgewalt über eine Art Bürgerwehr. Diese kämpft gegen einen nur aus dem Off mit Verhören aufwartenden „Feind“. Ihn begleiten Hoodie-Jugendliche mit Schlabberhosen und lümmeliger Coolness. Fragwürdig, dieses Feindbild des saturierten Bürgertums als Angstmacher einzusetzen. Sie agieren in der ersten Szene noch mit seinem Basketball, später dann mit Waffen und roher Gewalt. Unerwünscht deutlich gewinnt der Filmstoff derzeit schonungslose Aktualität. Das Geschehen könnte in der Ukraine, in Syrien, Israel, Gaza usw. angesiedelt werden, wo Menschen mit der militärischen Mordmaschinerie konfrontiert werden. Aber Andersson konkretisiert wie Bergman nichts, bleibt im Grundsätzlichen. Er gibt den Darstellern aber auch wenig Raum, sich die Rollen in aller Freiheit differenziert zu erspielen.
Beziehungsdrama wie man es von Bergman kennt. Foto: Armin Smailovic
Jan und Eva müssen die Beziehungskiller-Kontroverse schlechthin intonieren: Sie will ein Kind, er nicht. Es wird geheult, gewütet und zu bedeutungsvoll wabernder Musik ins Bett gestiegen. Nebel wallt als Unheilbote. Schon verlangen die sogenannten Invasoren ein Statement, auf welcher Seite die Gleichgültigen stehen. Beide versuchen sich rauszureden, sie seien „just musicians“. Aber zumindest ihren Friedenswunsch sollen sie artikulieren. Eva spricht ihn gequält in eine Kamera, Jan verkriecht sich in seine Weinerlichkeit. Aber eine Auseinandersetzung mit der Frage, was zivilisierte Lebewesen in ihrer Furcht um Leib und Leben zu tun bereit sind, ist das nicht. Es folgt nur eine überdeutlich panische Sexnummer. Dann Kriegslärm, der vollends aggressiv macht, Eva schreit, Jan rennt mit einem Messer auf sie zu.
Ein gutes Wort mit Bedingung
Nicht entspannter wird die Situation, als Evas Video viral geht, weswegen das Paar nun von Jacobis Leuten für Kollaborateure gehalten werden. Jacobi investiert in ein gutes Wort, das er für sie einlegt, und will dafür einen Kuss von Eva. Denn muss er nicht herbeizwingen, er bekommt ihn auf die Lippen gedrückt – und will mehr. Legt Geld auf den Tisch. Nötigt so zum Sex. Wie Eva damit umgeht, ist erschütternd. Sie verdreht nur kurz Augen und Kopf und legt sich dann entgeistert zielstrebig ins Bett, wird alles zulassen. Mit der moralischen Selbstrechtfertigung, damit das Überleben zu sichern? Ist ihr Verhalten fürsorglich oder als provokante Herausforderung für Jan gedacht? Besiegelt wird so jedenfalls das Ende der Geschichte von Jan und Eva. Als die Invasoren schließlich Jacobi festsetzen und anklagen, rächt Jan sich eiskalt an ihm für Evas Ehebruch. Da er seine charakterliche Niedertracht so schon offenbart hat, setzt er noch einen drauf, als Andersson erneut überdeutlich wird. Ein Bootsflüchtling kommt vorbei, erbittet einen Lift zum Anleger – Jan nimmt ihm das Leben und Migrationsticket. Das Saallicht geht an und Eva hebt leidend zu einem alles erklärenden Schlussmonolog an.
Kontrastreich ohne Drama
In dieser sehr reduzierten, aalglatt beispielhaften Inszenierung baut Andersson mit radikalen Wechseln von laut-leise, hell-dunkel, böse-nett zwar tolle Effekte, aber kein Drama. Kein Beziehungs- und auch kein Kriegsdrama oder gar Menschheitsdrama. Nur Zeigefingertheater. Niemand soll sich heraushalten, was um einen herum passiert, niemand kann der persönlichen Verantwortung entfliehen, jeder muss sich positionieren und dazu stehen. Jeder sollte ein richtiges Leben im falschen versuchen. So könnte die Moral von der Geschicht’ beschrieben werden. Der Fokus liegt auf individuellen Werten und Entscheidungen. Das ist natürlich alles richtig, aber so belehrend vorgeführt eher weniger wirkungsvoll als in Bergmans poetischen Verdichtung.