Foto: "Barocco" am Thaila in Hamburg © Fabian Hammerl
Text:Jens Fischer, am 26. Mai 2023
Der Regisseur Kirill Serebrennikov lebt nach Jahren im Hausarrest in Moskau nun in Deutschland im Exil. Am Hamburger Thalia Theater inszenierte er nun eine neue Version seiner im wahrsten Sinne pathetischen Ode an Freiheit und künstlerisches Engagement.
Überall Krisen, Katastrophen, Kriege. Dunkelgrau die Stimmungslage. Dunkelgrau auch die Atmosphäre auf der Bühne. Düster die projizierten Wolken, Nieselregen, schwarz gewandete Menschen kauern unter Schirmen. So beginnt die Schauspiel-Oper-Tanz-Collage „Barocco“, die Kirill Serebrennikov 2018 trotz Hausarrest-Verbannung an seinem Moskauer Gogol-Theater zur Uraufführung gebracht hat und nun am Hamburger Thalia Theater als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner neu inszenierte. Mit deutlicher Zielrichtung. An der Rampe erhebt sich jemand aus der allgemeinen Finsternis und hält ein Plakat mit dem Wort „Fire“ hoch. Zu verstehen ist das wohl als Aufbruchzeichen für eine Flucht in die emotionale Glut der Barockmusik.
Hat die metaphysische Verortung im Mittelalter noch alle Lebensbereiche durchdrungen, orientiert sich der Mensch im Barock am Diesseits, spürt im Vorfeld der Französischen Revolution die frische Luft der Freiheit, des Individualismus. Die Klangkunst dieser Zeit war für den russischen Regisseur einst Überlebensmittel in der Zwangsisolierung, das er jetzt als Anti-Depressivum offeriert. Von Jean-Baptiste Lully erklingt die kecke „Passacaille d‘Armide“. Zur weiteren Befeuerung wird ein Auto hereingeschoben und auf dem Dach zu Monteverdis „Pur ti miro“-Duett aus „L’Incoronazione di Poppea“ ein bisschen Sex-Akrobatik praktiziert. „Hingabe“, „Liebe“, „Treue“ sind Einblendungen dazu. Es gibt aber keine Übertitelung, keine Erklärungen zu den in vokaler Pracht von Odin Biron, Yang Ge, Svetlana Mamresheva und Nadezhda Pavlova ausformulierten Arien, dargeboten wie Monologe wirken sie nur über ihre musikalische Kraft – als Ausdruck oder Erregung von Affekten und Gefühlen.
Ihnen zugeordnet sind kurze Spielszenen. Für seinen Sohn (Felix Knopp) brüllt der Vater (Tilo Werner) feuereifrig nochmal durchs Megafon seine 1968er-Proganda von den Pariser Straßenkämpfen, fordert freie Liebe, freien Drogenkonsum, freie Kunst: Fantasie an die Macht. Feuer des Widerstands. Hinter ihm stehen Vertreter der Letzen Generation, auf ihren T-Shirts prangen Sprüche wie „There is no Planet B“. Auch der feministische Furor, mit dem Valerie Solanas auf Andy Warhol schoss, wird nachgestellt und mit glühendem Männerhass garniert. Feuer der Empörung. „Junge Leute, genießt euer kurzes Glück“, sagt eine Frau (Victoria Trauttmansdorff), Ballett-geschulte Künstler entern die Bühne und tun genau das in einer züngelnden Choreografie. Feuer! Übersetzt in endlos viele Sprachen läuft das Wort über ein LED-Panel, das sich ein Tänzer wie einen erigierten Riesenpenis zwischen die Beine hält. Mit dem Feuer seiner visuell unbändigen Fabulierlust und der Musik als Aufputschmittel will Serebrennikov das Theater, die Zuschauer nicht nur erwärmen, sondern dem Leben Zunder geben. „Damit ihr euch endlich erhebt“, wie es einmal heißt.
Felix Knopp führt locker durch den Abend. Er spielt einen über „den Krieg“ schreibenden Journalisten, hält das nicht mehr aus und will in Clubs den Burn-out aus sich heraustobe, trifft dabei auf Frauen, die im barocken Geiste „Vergnügen und Genuss“ predigen. Er recherchiert aber lieber zu Politaktivisten, die sich selbst in Brand gesetzt und als Fackel gegen herrschende Zustände der Unterdrückung protestiert haben. Etwa Semra Ertan, die sich 1982 in Hamburg aufgrund erlebter Fremdenfeindlichkeit anzündete, und Jan Palach, der sich 1969 nicht anders als so gegen russische Panzer zu wehren wusste, die den Prager Frühling gewaltsam beendeten. Auch eine philosophische Kauzerei stellt Knopp live en miniature nach und fackelt wie der gedankentiefe Protagonist in Andrej Tarkovskijs Film „Das Opfer“ ein Haus ab, um die Welt zu retten. Schließlich flimmert eine animierte Apokalypse in Anlehnung an die Schlussszene aus Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“ über die Bühne. Also nicht nur die labsalend wärmende, munter-mutig machende, auch die versengende und zerstörerische Wirkung des Feuers findet Erwähnung.
Gewidmet ist der Abend „allen politisch verfolgten Künstlern – in Russland und überall auf der Welt“. Passend dazu lässt sich der musikalische Leiter Daniil Orlov nicht unterkriegen, obwohl mit Handschellen an einen Polizisten gekettet, setzt er sich an einen Flügel, spielt einhändig Bachs Virtuosennummer Chaconne in d-Moll (in Brahms‘ Klavierbearbeitung) und entzündet so auf der Videowand hinter sich ein Feuer – bringt dieses also trotz Fesselung den Menschen: der Künstler als Prometheus. Ja, die ganze Aufführung ist so poetisch-pathetisch, kitschig, plakativ – aber so schön die Musik und der Gesang und die augenschmausig betörende Bildersprache, mit der Serebrennikov die barocken Exzesse in Form hält und Extravaganz zur Tugend erklärt. „Barocco“ brennt vor Leidenschaft, Überzeugungskraft und Dringlichkeit in Sachen Freiheitswillen, so dass die Oberflächlichkeit der assoziativen Dramaturgie den überwältigenden Eindruck kaum schmälert. So geht Musical anno 2023. Mit Standing Ovations reagierte das Premierenpublikum.