Foto: Christoph Stephinger (Melcthal), Jennifer Johnston (Hedwige) und der Chor der Bayerischen Staatsoper © Wilfried Hösl
Text:Klaus Kalchschmid, am 1. Juli 2014
Verkehrte Welt: Was fand das Münchner Festspiel-Premieren-Publikum an der kargen szenischen Fassung von Rossinis letzter Oper von 1829 auf einer abstrakten Bühne, beherrscht von einem Wald aus horizontal und vertikal beweglicher Säulen, die wie gigantische, abgestumpfte Orgelpfeifen anmuteten, und bei Kostümen aus den 60er Jahren eigentlich so skandalös, dass ein Buhgewitter auf Antú Romero Nunes (Regie), Florian Lösche (Bühne) und Annabelle Witt (Kostüme) niederging, während Dan Ettinger davon nichts abbekam, der Rossinis Meisterwerk so kompakt und oft undifferenziert laut dirigierte?
Sicher war dies kein szenischer Wurf, so klug das Regie-Team sich das Ganze auch gedacht hatte, und die raffiniert und elegant im Gegenlicht oder von oben beleuchteten Säulen, laut Nunes eine „Menschenschrottpresse“ (wovon man nichts mitbekam), waren so dekorativ beliebig eingesetzt, dass es nervte. Oder sollte den Unmut die Verweigerung jeglichen Hinweises auf die Schweiz und ihren Nationalhelden ausgelöst haben? Denn der höchst erfolgreiche 30-jährige (Schauspiel-)Regie-Wunderknabe machte aus Tell einen Antihelden, der eine saturierte Gesellschaft aufmischt, die es sich in der Besatzung gut eingerichtet hat, und scheinbar grundlos den Herrscher, also Gesler (wie immer imposant in Stimme und erscheinung: Günther Groissböck) herausfordert; weshalb Michael Volle den Tell auch als unsympathischen, immerfort aufbrausenden Berserker singt und spielen darf.
Mit dem berühmten Apfelschuss – hyperrealistisch effektvoll als coup des theâtre inszeniert – endet in München der erste Teil, bevor zur nachgeholten Ouvertüre nach der Pause Jemmy der Sohn Tells (zierlich, aber mit intensiv leuchtendem Sopran: Evgeniya Sotnikova) wieder an der Rampe kauert und eine wilde Comic-Welt und die Phantasmagorie absurd puppenhaft agierender Nazi-Soldaten imaginiert, bevor die Geschichte an dem Punkt weitergeht, wo sie vor der Pause aufgehört hatte.
Glücklicherweise hat Rossini aber auch eine große Liebesgeschichte in seine Oper eingebaut und mit Bryan Hymel als Arnold Melcthal und Marina Rebeka als Mathilde standen zwei Sänger auf der Bühne, die ihren exorbitant schweren Partien nichts schuldig blieben. Hymel besitzt nicht nur einen ungemein schönen, warm und weich strömenden, in allen Lagen gefestigten Tenor, sondern vermag auch seine zahlreichen Spitzentöne perfekt zu setzen, während Rebeka in ihrem Sopran jugendlich dramatische Fülle mit schlanker Beweglichkeit und Koloratursicherheit verbindet.
Auch alle kleineren Partien sind festspielwürdig besetzt: Allen voran die Hedwige, Gattin Tells mit Mezzosopran Jennifer Johnston. Doch auch Rodolphe (wunderbar aasig gespielt und gesungen vom Charaktertenor Kevin Conners), Leuthold (Christian Rieger) oder Ruedi, den Enea Scala gleich zu Beginn mit hohem, leichtem Tenor ausstattete, der alte Melcthal (Christoph Stepinger) oder Walter Furst (Goran Juri?).
Dan Ettinger meinte wohl, wenn auf der Bühne aggressiv agiert wird, dann muss auch das Orchester entsprechend unter Dauer-Hochdruck spielen. Doch das war weder sängerfreundlich, noch konnte es den Reichtum von Rossinis Partitur gerecht werden.