Das Regieteam schürft also tief – und erzielt zumindest einen Teilerfolg: Verdis Musik wird erlebbar, oft verhallte Einzelheiten gewinnen Relevanz und alle Details verbinden sich zu einem organischen lyrischen Fluss. Weil Kratzer Strukturen erfasst und sichtbar macht, weil Orchester, Chor und ein auf sehr hohem Niveau leicht unausgeglichenes Solistenensemble unter der feinsinnigen, den Abend bewusst konturierenden Leitung von Jader Bignamini offenbar für das Stück brennen, sich aber nie in den Mittelpunkt drängen. Allein die vielen fein austarierten, sorgsam gestaffelten Ensembles lohnen die Reise nach Frankfurt.
Um jenen Rassismus, den er zeigen, dem er seine Haltung entgegenstellen möchte, zu exponieren, nimmt Tobias Kratzer Zuflucht zum Medium Film. Manuel Braun zeigt zu Beginn auf der großen Leinwand eine Liebe zwischen einer Südstaaten-Pflanzerstochter und einem schwarzen Sklaven oder Flüchtling. Die Leinwand steht vor der Rückwand eines schmucklosen, weißgrauen Kastens, der die Grundkonstante von Rainer Sellmaiers Bühnenbild ist. Die Opernsänger tragen die gleichen Kostüme wie ihre Pendants im Film, der massive, dunkle, edel aussehende Holztisch ist doppelt, steht im Raum wie im Film. Auch die Handlung läuft doppelt ab. Wir sollen die Unterschiede zwischen den Medien wahrnehmen, erkennen, dass Typecasting im Film notwendig ist und als authentisch wahrgenommen werden kann, auf der Bühne aber nicht funktioniert. Was hier tatsächlich nicht funktioniert, ist die Setzung. Die historischen Kostüme der Sänger im leeren Raum, ihr halb wollendes Nachgestalten der Film-Gestik wirkt, vorsichtig gesprochen, unangemessen. Zumal die Exposition des Leitthemas Rassismus durch Leonoras Vater, den Marchese exponiert werden müsste, was aber nur im Text und in der Musik geschieht, nicht im Spiel.
Ein völlig anderes Bild dann in der zweiten Szene, der Taverne. Hier nimmt Kratzer das Spiel mit Verkleidungen ernst, setzt einen Theater-Saloon in Sellmaiers Würfel, irgendwas zwischen Kasperle-Theater und einer Installation von Edward Kienholz und setzt allen Beteiligten Masken auf – bis auf Preziosilla. Die ist ja schon bei Verdi reine Genrefigur oder, anders betrachtet, reines Symbol, also kein Mensch, der eine Seele oder eine Angst zu verhüllen hat. Mit dieser Vorgabe spielt die auch großartig singende Tanja Ariane Baumgartner geradezu wollüstig. Christopher Maltman als sehr präsenter Bösewicht Don Carlo, der an anderen Stellen drehbuchgemäß auch stimmlich stark aufdreht, nutzt hier die Möglichkeit, das Lied vom schwarzen Studenten wirklich als Lied zu präsentieren, als reine Musik sozusagen. Und Michael McCown entwickelt überzeugend eine sehr eigenwillige melancholische Lesart des Maultiertreibers Trabuco.
Im dritten Bild verwandelt sich ein Raum, der nach Heilsarmee oder sonstigem esoterisch überglänztem Sozialverband wirkt, zum Standort des Ku Klux Klan. Da marschieren marthalereske Männerfiguren in Pullundern auf und starren der verängstigten Leonora unverhohlen auf die Oberweite, vollziehen ihr Pathos-triefendes Versammlungsritual (bei Verdi sind es Mönche) und entflammen ein Kreuz. Padre Guardiano singt in Gestalt von Franz-Josef Selig außergewöhnlich klangschön und ausdrucksvoll. Warum derselbe Sänger vorher auch den Vater sang, erschließt sich jedoch szenisch nicht. Es sei denn, man will das als Rassismus-Indikator lesen, der sich hier zwar in den spitzen Kapuzen, aber nicht in Seligs Spiel niederschlägt. Was an dieser Stelle auch nichts macht, weil Verdis dramaturgische Anlage klug gefüllt und weiterentwickelt wird.
Es folgt das Bild, an dem der „Forza“-Regisseur in der Regel scheitert: Das Kriegsbild. Wir sind in Vietnam. Die vielen, „Wallensteins Lager“ offen abgelauschten, Genre-Szenen laufen unter „Truppenbetreuung“, was angeht. Aber die Camouflage-Kleddagen, das Maschinengewehrgefuchtel, die Plastikpalmen und Dschungelprojektionen – die sind das, was man immer sieht in derartigen Szenen, gerade bei Verdi, von „Nabucco“ bis „Trovatore“. Der weißgraue Kasten ist weißen Vorhängen gewichen, die Opernkonvention regiert. Sie wird zwar als solche bloßgestellt, es wird ihr aber nichts entgegengesetzt. Marilyn Monroe, Kennedy und Nixon helfen da genausowenig wie vorher Abraham Lincoln oder in der nächsten Szene die Obamas. Und schon gar nicht die Tatsache, dass unter den GIs farbige Statisten sind und als Kriegsopfer tatsächlich Menschen aus Vietnam gecastet wurden. Political Correctness falschrum, irgendwie. Und dann kommt, während der Philippika des Fra Melitone, der eben noch beim Ku Klux Clan war, gegen Sittenlosigkeit, eine Leinwand von oben und Martin Luther King hält seine berühmte Anti-Kriegs-Rede. Auch wenn Craig Colclough sich an diesem Abend bei seinem Deutschlanddebut als herausragender Sänger präsentiert – dieses Gewicht vermag auch er nicht zu schultern.
Die zweite Klosterszene als Tafel für Bedürftige trifft dann wieder genau das Stück und seine Struktur, zumal auch der Kasten wieder da ist, für Distanz sorgt und zu Konkretisierung zwingt. Der Schluss in der, bei allen sonstigen Vorzügen am Ende arg lapidaren, Petersburger Originalfassung kehrt dann, was die Mittel angeht, zum Anfang zurück. Wieder verdoppelt das Theater den Film, ist die Bühne leer bis auf die Matratze, die im Film Mittelpunkt eines schäbigen Motelzimmers ist, wo im Stück wiederum eigentlich eine Eremitenklause gemeint ist. Das Bild hängt durchaus schief. Am Ende, als Leonora und Don Carlo schon tot sind, kommen Melitone und Guardiano, jetzt in Polizistenuniform durch die Tür. Melitone erschießt Alvaro ohne Not und Guardiano beginnt gemütlich mit der Vertuschung. USA today?
Vom Protagonistenpaar muss noch gesprochen werden. Die noch sehr junge Michelle Bradley ist Leonore, eine dunkle, große Stimme, eine Sängerin mit Pianokultur und viel Klangfantasie, die die „Pace“-Arie zum Ereignis macht. Und doch technisch noch nicht ausgereift scheint, unter Druck sehr stark vibriert und in der Höhe gelegentlich klirrt. Und als Darstellerin noch mehr aus sich herausgehen könnte. Was auch für ihren Alvaro gilt, den Hovhannes Ayvazyan mit sehr schöner Mittellage gibt, aber auch mit häufig etwas steifer Tongebung und arg routiniertem Spiel.
„La Forza del Destino“ bleibt eine gewaltige Aufgabe für einen Regisseur. Vielleicht hat Tobias Kratzer Musik und Text, was ihn sehr ehrt, einfach zu ernst genommen. Vielleicht zu viel auf einmal gewollt. An vielen Stellen hat er neue Einsichten in diesen einzigartigen Theatersteinbruch vermittelt, was schon viel ist. Was man auch an den Reaktionen des Publikums ablesen kann, das deutlich in zwei Lager gespalten war. Die „Buh“-Fraktion war etwas lauter an diesem Abend, die, der es genau an den Stellen nicht bunt genug zugeht, wo es dem Rezensenten viel zu bunt ist. Und umgekehrt. Verdi bleibt schwierig. Aber sehr lohnend.