Szenenbild aus „Grusel”

Gemeinschaftsgruseln

pulk fiktion: GRUSEL

Theater:Theater der Jungen Welt, Premiere:31.01.2025Regie:Hannah Biedermann / Norman Grotegut

Bei TURBO, einem inklusiven Tanz- und Theaterfestival für junges Publikum, ist das theatrale Live-Hörspiel „Grusel“ von pulk fiktion zu Gast am Theater der jungen Welt in Leipzig. Dabei taucht man akkustisch in Gruselszenen ein und hinterfragt: Wovor haben wir eigentlich Angst?

„Darf ich dich am Handgelenk berühren?“ Mein Puls ist erst nicht auffindbar und dann doch deutlich erhöht. Ich stehe mit circa dreißig anderen kleinen und großen Menschen im Vorraum zur Bühne des Theaters der jungen Welt und ja, ich bin tatsächlich aufgeregt. „Grusel“ heißt das theatrale Live-Hörspiel für blinde und sehende Menschen ab acht Jahren von pulk fiktion. Bei Horrorfilmen schalte ich heute noch sofort weg, Nervenkitzel ist überhaupt nicht mein Ding. Jetzt stehe ich hier vor einer eisernen Flügeltür und weiß nicht, was mich dahinter erwartet.

Mit Kopfhörern in den Grusel-Theaterraum

Ein Junge traut sich, fest gegen die Tür zu klopfen und sie öffnet sich ins Dunkel. Ein Performer kommt auf mich zu, hängt mir einen Sender um und ich setze die Kopfhörer auf. Es rauscht und knistert. Die Zuschauer:innen werden von den vier Performer:innen untergehakt und einzeln in den Gruselraum zu ihren Plätzen geführt. Wir ducken uns unter einem Absperrband hindurch. Im Theaterraum ist es nur spärlich beleuchtet, sobald die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt man Stuhlgruppen im Raum, die äußere Begrenzung bilden Türen und eine kleine Treppe, die vier Stufen hinauf und wieder hinab führt.

In den nächsten sechzig Minuten tauchen wir in die Gruselwelt der Kinder ab. Sie erzählen uns über die Kopfhörer, wovor sie richtig Angst haben. Fantasiewesen wie Hexen, Vampire oder Werwölfe, aber auch Erwachsene mit zu viel Promille im Blut, die sich seltsam oder im Extremfall angsteinflößend verhalten. Die Performer:innen wirbeln zwischen uns umher. Aus einer Ecke kommen Geräusche von knarzenden Fußschwellen oder das Heulen des Windes. Wem die Sinneseindrücke, das Schaudern zu viel wird, kann jederzeit den Raum verlassen oder eine Sicherheitsdecke unter seinem Stuhl hervorholen. Diese signalisiert den Akteur:innen, dass man nicht angespielt oder berührt werden möchte.

In Bewegung bleiben

Die vier Performer:innen Marouf Alhassan, Jan Westphal, Manuela Neudegger und Norman Grotegut schaffen es, den Raum labil zu halten. Ständig ist man auf Hab-Acht, die Ohren auf Empfang, in Erwartung, welche Tür als nächstes auffliegt oder in welche Tiere und Gestalten sie sich als nächstes verwandeln. Wer sich traut, schließt seine Augen. Dramaturgisch gut durchdacht ist im Verlauf auch das Aufbrechen der Stuhlanordnung und somit das In-Bewegung-Setzen des Publikums. Zuschauer:innen erhalten individuelle Anweisungen auf ihre Kopfhörer: Da klingelt ein Telefon, an das jemand rangehen soll, dort soll eine Tür geöffnet werden, hier ein Karton. So werden wir involviert und vergemeinschaftet. Keine:r weiß, was im nächsten Moment passiert.

Gespielt wird mit vermeintlichen Einbrüchen der Wirklichkeit, mit dem Ausstieg aus dem Als-ob-Modus. Und es macht Spaß, den Performer:innen zu folgen, sich in diese Gratwanderung der Verunsicherung verwickeln zu lassen. Ein kleines Mädchen dreht sich zu mir und meiner Nachbarin um und fragt: „Das ist jetzt wirklich nicht geplant, oder?“ Ja, es macht wirklich Angst-Lust diesen Moment des Zweifelns zu spüren, ein gruseliges Gefühl des Dazwischen. Besser als ein Horrorfilm. Denn man empfindet zu keinem Zeitpunkt ein Gefühl der Überforderung. Auch wenn die Spielenden die Situationen verkörpern, vor denen man sich fürchten könnte, hat man trotzdem den Eindruck, dass sie einen in dieser Gruselwelt an die Hand nehmen. Und dieses theatrale Urvertrauen ist in einer interaktiven Theaterverabredung viel Wert.

Raus aus dem Alptraum

Am Ende geht der Spin weg von den bösen, hin zu den guten Geistern etwas unter, sodass das Entfliehen des Gruselraums an einem langen, pinken Glitzerpuschelband hinaus in die Leipziger Januarkälte etwas abrupt geschieht. Wie aus einem Alptraum, aus dem man ruckartig hochschreckt. Das ist zwar sensuell und durch das Prinzip des Rein- und Rausführens aus dem Gruselraum stimmig, aber die inhaltliche Behauptung, die Erzählung wird dünn. Das Publikum hätte den Performer:innen gerne länger applaudiert, allein der schneidige Wind stob sie hinfort. Damit verschenken sie ein wenig den Moment des Wiederauftauchens, um sich von dem Zauber der Gruselwelt zu lösen, die einen kindlich-sensiblen Zugang zu den Spielarten des Fürchtens bescherte.

Pulk fiktion zeigt anspruchsvolles, inklusives Theater, das auf individuelle Bedürfnisse des Publikums umsichtig eingeht. „Grusel“ ist zugänglich für alle und auch für Erwachsene ein sehens-, vor allem hörenswertes Erlebnis.

„Grusel“ ist eine Koproduktion von pulk fiktion mit dem KJT Dortmund, Freies Werkstatt Theater Köln und dem FFT Düsseldorf.