"The Snow Queen", hier mit Barbara Hannigan als Gerda und Thomas Gräßle als Double von Kay

Tauwetter der Seele

Hans Abrahamsen: The Snow Queen

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:21.12.2019 (DE)Regie:Andreas KriegenburgMusikalische Leitung:Cornelius Meister

18 Jahre alt war Hans Abrahamsen, als er für ein Chorstück, das unveröffentlicht blieb, eine tonale Melodie komponierte; nun benutzt sie der heute 66-Jährige Däne dazu, in seiner Oper nach dem Märchen „Snedronningen – Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen in Musik zu setzen, wie Gerda ihrem Freund, dem Waisenjungen Kay, vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählt: Der Teufel besaß einen Spiegel, der alles hässlich macht. Als er einst zersprang und seine Teile über die ganze Welt sich verstreuten, macht er Menschen, die einen Splitter in ihr Auge oder Herz bekamen, fortan blind für Schönheit, lässt sie vielmehr alles nur als etwas Schlechtes ansehen. Kay wird einen solchen Splitter ins Auge bekommen und nach einem Kuss von der Schneekönigin, der ihn Kälte nicht mehr als solche erleben lässt, zugleich vereist in ihr Reich entführt werden. Erst nach gut 40 Seiten und in den letzten 15 von 110 Minuten der Oper findet Gerda ihn wieder und spült mit ihren Tränen den Splitter aus seinem Auge, während der in seinem Herzen schmilzt.

In Andreas Kriegenburgs Inszenierung der deutschen Erstaufführung dieser vor kurzem in Kopenhagen auf Dänisch uraufgeführten Oper, die an der Bayerischen Staatsoper erstmals auf Englisch zu erleben ist, hat Gerda Kay freilich längst verloren: Er lebt zurückgezogen in sich selbst, apathisch und stumm im gestreiften Schlafanzug und mit dicken Wollsocken an den Füßen in der Psychiatrie, wo Gerda (Barbara Hannigan) ihn jeden Tag besucht. Seine Seele ist abgespalten als weibliches, singendes Ich. Die junge Mezzosopranistin Rachael Wilson trägt ebenfalls Schlafanzug, wie es noch einen kleinen Jungen und ein kleines Mädchen gibt, die einer Großmutter beim Vorlesen zuhören. Anfangs irritieren diese auf der Bühne beständig wechselnden Manifestationen als Kinder, junge Liebende und reife Erwachsene, zumal auch noch jede Menge Krankenschwestern mit spitzen, weit ausladenden weißen Hauben wie des Teufels Spiegelsplitter herumtippeln; später mutieren sie nur mit Gesichtsmasken zu singenden Blumen; sogar die Psychiatrie-Kranken scheinen sich wundersam zu vervielfältigen. Doch dank der Präsenz des Schauspielers Thomas Gräßle, der die Bühne nie verlässt und mit dem Gerda immer wieder in körperlichen Kontakt tritt, ohne ihn zu sehen oder wirklich zu spüren, wird das Trauma zum spannenden Drama und ist mehr als dröge Fallstudie. Wunderbar poetisch etwa die Szene zu Beginn des dritten Akts, wenn Kays Krankenhausbett zur Kutsche auf Kufen und sein Körper zum Pferd wird, auf dem Gerda reitet, während Plastikfolien wie Schnee um das Gespann wirbeln.

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Ganz am Ende, als Gerda Kay wiedergefunden hat – in einem heruntergekommenen, schmutzigen und Furcht einflößenden Operationssaal, in dem ihre anfangs leblose Hülle auf dem Tisch liegt – sieht und erlebt sich das reife Paar endlich in seiner Ganzheit, aber auch die jungen Liebenden werden eins und endlich verschmelzen auch momentweise die beiden wunderbaren Frauenstimmen. In einer nicht zuletzt musikalisch faszinierenden Apotheose sind die Vereisungen der Seele auch in den anderen Psychiatrie-Patienten aufgetaut. Kollektiv wird der Sommer auf gleißend heller Bühne und in fröhlich pastell-bunt geblümten Kleidern (Kostüme: Andrea Schraad) gefeiert, als wär‘s das Finale der „Zauberflöte“, über das in der Partitur steht: „Sogleich verwandelt sich das ganze Theater in eine Sonne.“

Doch wie der Weg für Gerda ein langer und manchmal steiniger ist, machen es die beiden Akte vor der Pause den Zuhörern und Zuschauern nicht leicht. Man muss die Ebenen in der Vermischung von Realität und Traum zugleich auseinanderhalten und zusammendenken, man muss wach sein, um zu hören, was die reich verästelte Vertonung des Märchens bietet, und sehen lernen, welche Meta-Handlung Andreas Kriegenburg auf der durch Plastikplanen gestaffelten Bühne von Harald B. Thor, auf die es fast immer von deutlich sichtbaren Walzen im Schnürboden schneit, wie und warum darüber wölbt. Die hoch komplexe, oft eminent leise, nur in den Zwischenspielen gewaltig sich aufbäumende Musik Abrahamsens imaginiert Schnee und Kälte, ohne plakativ zu werden. Das ist einerseits faszinierend, andererseits ermüdet es manchmal ein wenig, zumal wenn aus komplexen Zahlenverhältnissen gewonnene feinste rhythmische Überlagerungen des beständig flirrend-fließenden Strom der Streicher, in den zarte Bläser-Fäden oder ein Akkordeon eingesponnen sind, plötzlich zu Minimalismus-Strukturen sich konkretisieren. Trotz eines riesigen Orchesterapparats komponiert Abrahamsen meist gesteigerte, vielfach aufgefächerte Kammermusik. Mit Ausnahme der Schneekönigin (Bassist Peter Rose), die sogar den „Cold Song“ aus Purcells „King Arthur“ zitieren darf, dominieren Frauen- und hohe Männerstimmen. Die Krähen werden von Countertenor (Owen Willetts) und Tenor (Kevin Conners) verkörpert, der Prinz (Dean Power) agiert in dieser Lage, während die Prinzessin (Caroline Wettergreen) als Koloratursopran zwitschert. Nicht zuletzt dies und die Tatsache, dass die Gesangslinien Teil des Orchestergewebes zu sein scheinen, lässt die Musik ganz ohne Bassfundament fragil schweben.

Nach der Pause, wenn zu Beginn des dritten Akts Gerda mit Verve verabschiedet wird („Safe journey, off you go – Gute Reise, los geht’s!“), gerät auch die Musik in Bewegung und verfällt momentweise in einen saftig wogenden Duktus, als wär’s eine Ouvertüre, die es vorm zarten, fast tonlosen Beginn des ersten Akts nicht gab. Mit der Reise Gerdas in den hohen Norden, zu Rentier (ebenfalls Peter Rose) und Finnenfrau (auch Großmutter und Alte Frau: Katarina Dalayman) kommen Dramaturgie und Handlung in Bewegung, bis zwanzig Minuten vor Schluss die jetzt eisig schrill-flirrende Musik ihren Höhepunkt erreicht. Im Operationssaal findet der stumme Kay endlich das Wort, das ihn erlöst und worin die Nacherzählung des Märchens mit seiner Deutung zusammenfällt: „ETERNITY – Ewigkeit“, schreibt er mit roter Farbe auf einen fast blinden, aber intakten Spiegel und bannt mit dieser Losung auch den Teufel.

Die wenigen Buhs für das Regieteam übertönt großer Jubel für alle. Nicht zuletzt gilt er dem Komponisten Hans Abrahamsen, aber auch dem Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper und vor allem Dirigent Cornelius Meister, der eine stupende Präzision in der Führung des großen Orchesters mit reifem Sinn für Struktur und feine Klanglichkeit der Partitur paaren konnte.

 

 

Die Aufführung von „The Snow Queen“ am Samstag, 28. Dezember (19.30 Uhr) wird kostenlos live auf STAATSOPER.TV übertragen und ist vom 30. Dezember (12 Uhr) bis 29. Januar 2020 (11.59 Uhr) auf der Seite abrufbar.