Foto: Martina Struppek, Andreas Bißmeier und Tobias Beyer in der Uraufführung von "Jenny Jannowitz" © Volker Beinhorn
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 11. Juni 2014
Kapitalismus, das heißt Beschleunigung mit Krisenbesatz. So jedenfalls die Theorie. Und während uns Entschleunigungsphilosophen als Gegenmittel das Ritardando des Lebens dringend nahelegen, erwarten die so genannten Akzelerationisten einen Systemwechsel eher bei laufendem hochtechnologischem Betrieb. Bloß nicht hinter den Stand der Produktionsmittel zurückfallen. Michel Decar hat mit „Jenny Jannowitz“, das in diesem Jahr mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet wurde, nun die Farce zum Accelerando des Kapitalismus geschrieben. Die Work-Life-Balance seiner Hauptfigur, des IT-Fachmanns Karlo Kollmar ist schwer gestört, denn er hat das Gefühl, gleich den ganzen Frühling erschöpft verschlafen zu haben, während sein Chef Pappeldorn ihm hervorragende Arbeit attestiert, ihm freigibt und Geld hinterherwirft. Die Firma habe den Plan übererfüllt und die Zeit renne gerade der Arbeit hinterher. Ein bisschen ausspannen also, doch Freundin Sibylle wechselt innerhalb einer Szene ihren Namen zu Sabylle, Sabynne und schließlich Sabine. Identität hat sich verflüssigt, ist zur Persönlichkeits-Gleitzeit geworden. Die Kategorien sind ganz büchnersch in der schändlichsten Verwirrung. Und auch alle sozialen Beziehungen sind inzwischen fließend geworden: Carlos Mutter wechselt die Männer wie die Wellness-Inseln. Freund Oliver übernimmt nicht nur Carlos Freundin Sabine, sondern auch dessen Job. Decar operiert mit einer höchst einfachen Sprache, die oft einsätzigen Dialoge sowie die ineinander geschobenen Szene sorgen für ein hohes Tempo.
In Catja Baumanns biederer Uraufführung bei den Ruhrfestspielen ist von diesem Taumel des Identischen, vom fluiden Sozialen nichts zu sehen. Die Figuren hausen in drei weißen zerlegbaren Regalelementen (Ausstattung: Linda Johnke), sind eher Kästchen-, Etuimenschen, die ständig mit Pappschildern, auf denen Namen und Orte stehen, hantieren müssen. Raphael Traub als Carlo Kollmar gibt den naiv dreinblickenden Toren, der den Witzfiguren seiner Umgebung ausgesetzt ist: der überdrehten Mutter im Leopardenlook (Martina Struppek), seiner überkandidelten Freundin (Rika Weniger) oder dem jovialen Chef im Rollstuhl (Andreas Bissmeier).
Decars Hauptfigur ist allerdings keine Parsifal, sondern die Inkarnation des flexiblen und affirmativen Menschen. Die Beschwerde darüber, dass Freund Oliver seinen Job übernimmt, wird zum grotesken Veitstanz der Konfliktvermeidung („Ich beschwere mich ja prinzipiell nie“), die der Firmenchef durch schlichte Selbstbezichtigung unterläuft. Keine Figur weiß mehr, bei welcher Firma sie beschäftigt ist, weil die Eigentümer im Höchsttempo wechseln; Aufenthaltsorte wechseln wie die Schauplätzen im Film, mit denen sie immer wieder kurzgeschlossen werden. In der Uraufführung ist diese geographische Austauschbarkeit allerdings nur noch ein Bezeichnungsproblem. Und wenn es wild wird, spielt die Regie einen Charleston ein und lässt die Figuren mit Papphütchen herumfeixen. Der Abend verkommt schließlich je länger je mehr, zu einer Requisitenschlacht mit zweidimensionalen Handtaschen, Hanteln, Cocktailgläsern und zielt damit an der Vorlage komplett vorbei. Und auch die Titelfigur, die bei Decars Stück als Zauberin, als Fee Karlo Kollmar begleitet, ihn vom Selbstmord abhält und ihn am Ende als „Engel des Todes“ (so der Untertitel des Stücks) ins All mitnimmt, diese Jenny Janowitz kommt bei Bea Brocks kaum über ein naiv-kokettes Wesen hinaus. Das Dilemma der Inszenierung ist, dass sie die Farce nicht aus dem Stück und seinem Personal entwickelt, sondern durch Requisiten oder szenische Gags noch zu überbieten versucht – und dabei kaum mehr als abgestandene Witzeleien zustande bringt. Das Stück ist eine zweite Deutung wert.