Foto: Ensembleszene mit Sayaka Kado und Max Zachrisson © Jesús Vallinas
Text:Dieter Stoll, am 13. Dezember 2015
Zwei Komponisten sind für dieses überaus ambitionierte Tanztheater-Projekt im Schummerlicht der Psychiatrie, mit dem der erfolgreiche Nürnberger Ballettchef Goyo Montero eine Wende seiner choreographischen Ästhetik ankündigt, im Einsatz – doch weder dem Franzosen Hector Berlioz („Symphonie Fantastique“ von 1830) noch dem kanadischen Computer-Künstler Owen Belton (ergänzende Auftragskomposition 2015) ist der Anstoß für die Umkreisung einer in sich zerrissenen Figur vergönnt. Das erste Bild bleibt ganz ohne Musik, es zeigt im Kerker mit Tisch und Stuhl und Kletterwand eine von verzerrten Stimmen bedrängte Figur. Sein Innenleben aus Albtraum und visionärer Wahrnehmung will das Stück „Latent“ ausschöpfen. Dieser „Mann“ (nennen wir die Rolle mal so, sagt ihr Schöpfer) windet sich im Schmerz gegen die Bedrohung, möchte den dunklen Ahnungen entkommen und gerät dabei in ein Spuk-Panoptikum von Doppelgängern und Angst-Psychosen.
Der Stück-Titel verweist auf verborgenes, dennoch fühlbares Schicksal und den dafür erstmals gewählten Gattungsbegriff „Sinfonisches Ballett“ darf man ebenso als Befreiungsschlag vom konventionellen Handlungs-Tanz deuten wie auch als Ankündigung des Zusammenklangs vieler Elemente. Es ist gleichermaßen problematisch wie reizvoll, dass Montero die mit verdeckter Bühnendramatik aufgeladene Form der Berlioz-Komposition keineswegs ignoriert, also bei der Umleitung der Energie ein bisschen „Handlung“ denn doch wie Verpackungskunst fürs proklamierte Abstrakte einsetzt. Seine offenkundige Absicht, der Konvention zu entkommen und dabei doch nicht ganz loszulassen, bringt tanztheatralisch gesehen jedenfalls erstklassiges Bungee Jumping.
Die Vorbereitung für „Latent“, dieses mit seinen Rätseln manchmal geradezu aufreizend spielende Traum- und Trauma-Ballett, zeigt den Nürnberger Spartendirektor im riskanten Einsatz. Allein seine abgearbeitete Bücherliste über Psychologie könnte den Zuschauer einschüchtern, würde er selber nicht der Erfahrung an der Seite des Chefarztes am Nürnberger Fach-Klinikums die weitaus größere Bedeutung beimessen. Dort hat er Patientengespräche und Tanztherapien beobachtet, Bewegung ebenso wie ihre Verweigerung studiert und die Spiegelungen der Schizophrenie bis zurück zum Rorschachtest am nicht ganz deutungsoffenen Tintenklecks verfolgt. Ein Ausforschungs-Muster, das nun Spuren bis auf die Kostüme der Tanzcompagnie verlängert.
Zwischen den Sätzen der taumelnd durch diffuse Leidenschaften führenden Berlioz-Symphonie (in gediegener Konzert-Qualität live aufgeführt von der Staatsphilharmonie unter Dirigent Gábor Káli) wirken Owen Beltons kleinformatig angelegten Computer-Kompositionen mit Sound und Stimm-Verfremdung wie Querschläger, sind aber auch Umleitungsversuche aus dem romantischen Überschwang zum aktuellen Analyse-TÜV. Man wird auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
Natürlich geht es Goyo Montero ganz pragmatisch um großes Tanztheater – für sein Ensemble und sein Publikum. In neun Szenen, die in ihren Titeln eher etwas zu handlich geraten sind (von „Migräne“ über „Gruppentherapie“ und „Libido“ bis zur finalen „Realität“ flattern die Begriffe), ruft er den von Ahnungen bedrängten „Mann“ (Max Zachrisson, grandios in der Verbindung jugendlicher Artistik und altersloser Charakteristik) und die frei nach den Symphonie-Motiven als „Idée fixe“ gekennzeichnete Mediatorin an seiner Seite (Sayaka Kado auch diesmal wieder ein Mirakel an Tanz-Poesie) in den magischen Kreis der Mutmaßungen.
Das große Ensemble umspült im Wellenschlag choreographischer Einfälle die Suche nach Erlösung, baut sich als gesichtsloses Doppelgänger-Kollektiv auf oder stößt in gespenstisch auftrumpfenden Formationen ins Nichts. Auf suggestiven Walzer- und Marschmotiven tänzeln Momente fixierter Sprachbehinderung. Sie erinnern entfernt an Alain Platels „Tauberbach“, auch wenn dabei wie im schaurigen Finale mit der Travestie des „Dies irae“ die Grundfarbe geschmackvoller Ballett-Ästhetik den freien Fall in den Schock verhindert. Da ist der Zuschauer nicht ins Mitleid gestoßen, sondern zum Abschreiten von Gedanken eingeladen.
Montero wagt von handwerklich absolut sicherem Standpunkt den Blick in den Abgrund, wenn er die Obsessionen mit Schattenspiel und Puppenführer zum geordneten Unterbewusstseins-Tumult aufbäumt (mit Bühnenbildnerin Eva Adler hat er dafür Gegenwelten aus weich fließenden Vorhängen für den weiten Bühnen-Horizont der Traumbilder und betonharte Wände für das enge Gefühls-Gefängnis erfunden), und gibt mit offen einsehbaren Beleuchtungseffekten den Trost, dass es ja letztlich doch Theater ist. Am Ende, wenn die Akteure ihre Klamotten vom Leib reißen, siegen Aberwitz und Melancholie, das ist schon wahr, aber da ist der Absturz eben längst ein allseits akzeptiertes Kunstwerk.
Das Premierenpublikum feierte die Compagnie und ihren weiter auf Suche befindlichen Chef stürmisch, fast schon demonstrativ – als ob sich die „latente“ Gefahr bereits herumgesprochen hätte, dass Intendant Peter Theiler den Choreographen 2018 allzu gern an die Semper-Oper nach Dresden mitnehmen möchte.