Foto: Szene mit Linda Kuhn und Ulrich K. Müller © Frank Hormann
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 27. Mai 2016
Gebäude sind auch nur Menschen. Das Große Haus im Volkstheater Rostock ist so eins: Es habe eine Seele, sagen die Nutzer, und seine Atmosphäre verändere sich mit den jeweiligen Generationen, die darin leben. Und tanzen: Denn seit seiner Eröffnung im Jahr 1908 wurde die „Philharmonie“, wie die Spielstätte Jahrzehnte lang hieß, vor allem als Ballhaus genutzt. Diese über hundertjährige Historie steht im Mittelpunkt der letzten Tanztheater-Premiere der Spielzeit am Rostocker Vier-Sparten-Haus.
„Café Coloré“ erzählt eine fiktive Geschichte, entlang überlieferter Fakten aus der bewegten Vergangenheit. Dass knapp zweistündig und pausenlos Rückschau gehalten wird auf die Tradition des Hauses, ist in Zeiten der massiven Bedrohung durch auferlegte Kürzungen natürlich kein Zufall: Der Abend ist zwei in einem – eine Botschaft an die politischen Entscheidungsträger und ein unterhaltsames Stück für neun Darsteller. In bester Tanztheater-Manier mischen sich Körper- und verbale Sprache, emulgieren die Ausdrucksmöglichkeiten des tanzenden und weitgehend monologisierenden Schauspielers Ulrich K. Müller mit jenen der acht vielseitigen, singenden und sprechenden Tänzer.
Die Körper eines ungleichen Paares haben zu Beginn sozusagen das erste Wort. Danach löst sich Protagonist Müller von seiner Tanzpartnerin und nimmt die Rolle des Erzählers ein: „Ich träumte, ich stand am Ende meines Weges vor dem Tod. (…) Ich hätte noch gern meine Memoiren geschrieben…“ Unerledigtes zurücklassen zu müssen, hier in einem Zitat von Curt Goetz, steht als Signal im Raum – eine Metapher für die Zukunft des Theaters?
Die verwendeten Texte stammen nicht nur vom berühmten Komödienschreiber, der übrigens als Schauspieler sein Bühnendebüt am Stadttheater Rostock gab; vor allem historische Zeitungsartikel, aber auch der Originalton einer Rede Adolf Hitlers sowie zahlreiche Zitate aus Dramen zwischen Shakespeare, Heinrich von Kleist und Peter Weiss sind im Laufe des Abends zu hören, letztere selbstredend als Auswahl mit Bezug zur Programmgestaltung des Theaters.
Die vier weiblichen und männlichen Tänzer verwandeln sich in Volk, Arbeiterschaft, Mitläufer, Revolutionäre und Vergnügungssüchtige. Im „Café Coloré“, dem bunten Kaffeehaus, treffen sich Menschen unterschiedlichster Herkunft, dabei werden die wichtigen Stationen des Gebäudes als Ballsaal, Vereins- und Tanzlokal, Gewerkschaftshaus, Kino und provisorisches Theater gestreift. Die choreografische Handschrift von Katja Taranu ist von beeindruckender Bandbreite, sie kreiert witzige Pas de deux, wirkungsvolle Soli und atmosphärisch dichte Gruppenszenen; stilistisch herrscht der moderne Tanz vor, doch nutzt sie thematisch passend auch Elemente des Gesellschaftstanzes und des Schauspiels, die ihre Truppe überzeugend bewältigt. In dieser charmanten Zeitreise durch einen einzigen historischen Raum wirkt nur eine Sequenz wie ein Fremdkörper: Die Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nimmt mit tänzerischen Motiven Gestalt an, die deutlich an die berühmte Choreografie „Echad Mi Yodea“ von Ohad Naharin erinnern – und das nicht nur, weil ebenfalls Stühle im Halbkreis betanzt werden.
Andererseits berühren so originelle Ideen wie der Gang zweier Tänzerinnen, die ihre nackten Füße umsichtig vom Boden weg zupfen, als ob der Untergrund (politisch) immer heißer wird. Ein eindringlicher, poetischer Tanztheaterabend, der das Publikum begeisterte.