Foto: Ensemble-Szene © Andreas Etter
Text:Melanie Suchy, am 9. November 2024
Die Tanzkompanie am Staatstheater Mainz, tanzmainz, zeigt ein nagelneues Stück des kanadischen Choreografen Frédérick Gravel. „History is Mostly Made of Flesh“ spielt mit dem Begriff von Geschichte – und erinnert an manch andere Stücke.
Was heißt „neu“? Das, was bald alt ist und vergessen? Der Stücktitel „History is Mostly Made of Flesh“ klingt nach Bonmot, Geschichte sei vorwiegend aus Fleisch gemacht. Roh, blutig, wahr, was die Menschheit betrifft. Doch die vierzehnköpfige Menschengruppe hier bemäntelt ihr Fleisch.
Kein Big Bang
Die von Kostümbildnerin Viktoria Schrott erfundenen Klamotten verleihen den Tänzerinnen und Tänzern einen etwas wilden Schick. Der riesige Begriff Geschichte wird heruntergebrochen, wie man so sagt, auf ein Häuflein Individuen. Die aber höchstens ahnen, was das bedeutet. Sie tauchen von nirgendwoher auf und halten an der Bühnenkante ihre gruselig geschminkten Gesichter ins Licht, rote Augenhöhlen, schwarze Tränenspuren. Sie spähen, schauen scheu oder drohend oder stolz. Als Figuren, den Blicken des Publikums ausgesetzt, spielen sie brav Präsentieren: deuten auf Einzelne, die sich in der Aufmerksamkeit sonnen, bis die Vierergrüppchen sich leise umarrangieren. Sie vermeiden lautes Klischee-Posieren, kennen die heutige Fotoseuchenwelt noch nicht. Diese Zartheit oder Zagheit ist der berührendste Moment der knapp einstündigen Geschichte. Denn die Choreografie dehnt sich im Mittelteil etwas ins Beliebige.
Doch erst wandern die Fingerspitzen der Anfänger:innen zu ihnen selbst hin, fühlen Gesicht, Stoff, Haar, fast verwundert. Was sind sie selbst in ihrer Haut? Mit Einknicken in Knien, einem Auf und Ab, das sich in der Gruppe verbreitet und zu Schritten wird, geraten alle in größere Bewegung und Takt. Sie richten sich weiterhin frontal aus und klappern in den Gelenken. Bleiben also Figuren, Pappkamerad:innen, die etwas mitspielen. Manchmal tickt jemand aus mit gebremstem Boxen und Recken, aber ohne Konsequenzen. Ist kein Sandkorn im Getriebe.
Auf unsichtbaren Bahnen queren sie die Bühne, hin, her und hin, her, die Arten des Gehens ändern sich, mal tief in den Knien, mal zucken die Schultern. Zwei machen plötzlich das gleiche, dann vier, dann andere drei. Die Unisonos sind nett fürs Auge. Sie erinnern an das inzwischen berühmte „In C“ von Sasha Waltz, ebenfalls improvisiert mit vorbestimmten Einzelphrasen. Oder an „Sphynx“, das Rafaële Giovanola Anfang 2022 mit tanzmainz erarbeitete. Sogar Anklänge an die Mainzer „Soul Chain“ von Sharon Eyal meint man zu entdecken beim Trippeln, Knieheben und Zusammenrücken der Gruppe.
In Schale geworfen
Fast unbemerkt haben die Tänzer:innen im Laufe der Zeit, der Geschichte, Jacken, Röcke, Röckchen, Schleppen, Schlipse, Hosen, Strümpfe, High-Heel-Stiefel oder sonstige Schuhe am Bühnenrand abgelegt. Haben sich verändert. Gehen alle auf flacher Sohle, barfuß oder in Socken; nur vereinzelt baumelt hier noch eine Krawatte, stecken dort Beine in Leggins. Ansonsten nun viel mehr Haut an der Oberfläche, schwitzend. Sie hält das heiß gewordene „Flesh“ zusammen, das darunter arbeitet und keine Ruhe gibt. Es scheint seine eigene Zeit zu haben, eine innerliche, die Brustkörbe plustern und pumpen, Körper wölben sich nun, vor, rück, drehen, werden sehr langsam, geraten aneinander, paarweise. Sie wenden sich ab vom Publikum, Front jetzt zum direkten Gegenüber und hören dann nie wieder auf.
Nur der Vorhang fällt. Der Schluss irritiert. Als gebe es ein Maschinchen namens Leben, das sich nicht ergibt, das die Geschichte anhalten will. Das seine Power aus angespannter Zweisamkeit speist.
Der Choreograf Gravel aus Montréal ist hierzulande wenig bekannt. Er tourte zuletzt mit seinem Solo „Fear and Greed“ nach Deutschland, einer humorvoll ernsten Selbst- und Kunstbefragungsshow, mit Gitarre und viel Text. In Mainz sind die einzigen Worte gesungene: Bevor Tomas Fureys elektronischer Drift und Ritt beginnt, eröffnet den Abend, wie ein Klang aus Märchenzeit, die Arie „Ebben? Ne andrò lontana” aus Alfredo Catalanis Oper „La Wally” von 1892. Herrlich traurige Einsamkeitstöne mit Abschiedsworten. Im Film „Diva“ von 1981 war’s der Beginn einer Liebe.