Vivaldis fröhlich-repräsentatives Einleitungsthema zum Frühling kommt bei ihm gar nicht vor. Und überhaupt klingt bei Richter vieles unter der akustisch aufgepolsterten Violine nach Technik-Wellness und Neo-Klassik. Also ein ziemlicher flacher und flockiger Sound für „Vier Jahreszeiten“ im fortschreitenden Klimawandel der gemäßigten Breiten, wo die dereinst fließenden Grenzen zwischen kalter und warmer Jahreshälfte zu schroffen Wechseln, Flutwellen, Temperaturstürzen und Hitzeattacken werden.
Tanz der Utopie
Nichts von dem findet sich in der Choreografie. Dafür beinhaltet diese eine bittersüße Warnung vor dem unwiederbringlichen Verlust der hier dargestellten und keineswegs naiven Harmonie durch den Katastrophenzuwachs. Die Würzburger Tanzdirektorin Dominique Dumais glaubt an die Verbindung von Allem mit Allem. Auch deshalb ist ihre jüngste Kreation kein Spiegel gegenwärtiger Ängste und Untergangsszenarien, sondern eine beglückende Apotheose von Gemeinschaftssinn, Lebensbejahung und Körperlichkeit.
War Dumais‘ vorherige Choreografie „Chaplin!“ im Frühjahr 2023 noch eine fein abgezirkelte und dramaturgisch sinnfällige Hommage auf das Lebenswerk des Cineasten, so feiert und jubelt hier schon wenige Minuten nach Beginn ein kollektiver Frohsinn mit etwas Nachdenklichkeit. Die Körper robben und rollen sich im Halbdunkel auf der Bühne in der Theaterfabrik Blaue Halle nach vorne. Ein großes Auge glimmt von der Rückwand ins Publikum, danach spielen Flammenwolken in psychedelischer Stilisierung auf der Projektionsfläche.
Glanzmomente für Würzbürger Ensemble-Mitglieder
So beginnt Dumais‘ mit dem Ensemble entwickelte Jahreszeiten-Hymne. Und sie ist bis zum Schluss voll emotionaler Beweglichkeit und Empathie. Es reihen sich Kollektiv-, Kleingruppen-, Duo- und Einzelszenen. Paul Zoller hat eine niedrige Barriere mit elliptischer Ausbuchtung gebaut, über die das 14-köpfige Ensemble immer wieder springt und sich in schnell wechselnden Konstellationen auf der vorderen Spielfläche wiederfindet. Die Kostüme von Kerstin Laube feiern die getanzten Körperlichkeiten mit durchsichtigen Tops, Hosen und Röcken aus weißem Satin und bunten Schleierumhängen.
Auch außerhalb der beiden Tierepisoden, in denen das Ensemble mit leichthin eingestreuten Reminiszenzen an den Bauernhof in Frederick Ashtons Klassiker „La fille mal gardée“ erinnert und mit Fellmützen eine Art Disney-Schamanismus betreibt, sind die 65 Minuten eine durchgängig heitere Szenenfolge. Die Produktion wäre ohne weiteres als Weihnachtsmärchen der Tanzsparte denkbar.
Jedes Compagnie-Mitglied hat seine individuellen Glanzmomente. Erfreulich leicht ist Dumais‘ Jahreszeiten-Zyklus mit seinem behaglichen Nestwärme-Winter am Ende auch darin, dass viele Momente eine von aktuellen Jagden und Geißelungen unbelastete Erotik kultivieren. Fragen nach geschlechtlichen Zuordnungen und Neigungen ergeben hier überhaupt keinen Sinn, sind unwesentlich. Denn Dumais‘ „Vier Jahreszeiten“ spielen in einem utopischen Arkadien ohne sexualidentitären Streitbedarf, ohne moralischen Rigorismus.
Mauer zwischen Tanz und Musik
Tänzerisch schweben diese „Vier Jahreszeiten“ also in fast entrückter Harmonie. Richters Musik jedoch baut Mauern zwischen der vom Tanz beschworenen Naturnähe und technisierten Musikstandards. Da ist die choreografische Leistung in diesem Fall weitaus lichter und freudiger als die Musik und die szenischen Materialien.
Kleines Besinnen zum guten Schluss: Die Tänzerinnen und Tänzer verteilen sich im Zuschauerraum und warten zu den letzten Takten mit dem Publikum auf das Ende. Hymnischer Beifall. Die getanzten Glücksforderungen wurden von allen Gästen dieser Premiere bestens verstanden.