Foto: Samir Akika choreografiert am Theater Bremen Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“. Nervenkrieg: Der Revolutionär (Frederik Rohn) und die Machtzicke (Lotte Rudhart) © Jörg Landsberg
Text:Jens Fischer, am 31. Oktober 2015
Besonders, eigenartig – ja, allesamt ziemlich schräg drauf sind sie in Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“. Nach dem Bestseller (1962), seiner Dramatisierung (1963) und Verfilmung (1975) ist der Stoff nun Ausgangspunkt kreativer Bewegungskunst. Für eine Kooperation der am Schauspielhaus Bochum residierenden Streetdance-Truppe Renegade mit Samir Akikas Bremer Kompanie Unusual Symptons.
In einem Prolog werden die Parteien der folgenden Kampfeshandlungen von stellvertretenden Protagonisten vorgestellt. Auf der einen Seite stolziert die machtverrückte Oberaufseherin: Lotte Rudhart tanzt Ratched. Ihr Kleid dampft kunstnebelkalt – als Vertreterin des eisigen Verstandes, einer freudlosen Vernunft. Eckig ist ihr Motionskanon, hinzu zitiert sie zackige Gesten, die einst Robert Wilson asiatischen Tanzkünstlern abgeschaut hat. Wie in einem Science-Fiction-Fim lädt sich die Ordnungsfanatikerin an einer Plasmascheibe mit Superheldinnenenergie auf, besitzt nun schwarzmagische Kräfte. Ihre Hände sind als lähmende Waffen, Magnete, Saugmaschinen und Elektroschocker einzusetzen.
Auf der anderen Seite steht als Opfer ein riesengroß dunkelhäutiger Struwwelkopf, traumverloren in sich versunken – laut Vorlage ist dies der Indianer Chief Bromlin. Elegant auszubalancieren versucht er seinen taumelnden Körper, der von Zuckungen heimgesucht wird und dem die Arme immer wieder entfliehen wollen. Sekundenkurz auflodernde Energie des Freiheitswillens steht im Widerstreit mit resignativer Ohnmacht – gegenüber einem totalitären System. Das ist hier die Psychiatrie: Metapher für menschenverachtenden Alltag – und bei Kesey auch Verhandlungsort der Frage, wer den Grenzlauf zwischen gesund und krank, normal und verrückt definiert.
Schon trippelt die Bewohnerschar herein. Beispielsweise ein am ganzen Körper stotternder Typ. Ein manisch hechtspringender Kollege sammelt Blicke unter Frauenröcke. Auf Krücken sowie im, auf und mit dem Rollstuhl zelebriert ein knieverletzter Tänzer kühn zirzensische Artistik. Andere mischen Breakdance-Akrobatik mit ausdruckstänzerischen Versatzstücken individueller Verstörungen. Reduzieren so die Charakterisierung ihrer Figuren auf äußere geisteskranke Erscheinungsbilder. Erobern dabei mehr und mehr ihre Anstalt, den Raum und die Tobemöglichkeiten des zum Rutschen, Klettern, Skaten einladenden Bühnenbildes (Nanako Oizumi).
Über allem thront die Oberschwester. Ruft zur Medikamentenvergabe wie zum Abendmahl. Spielt die Vortänzerin bei der Morgengymnastik. Hat alles im Griff. Bis so sein Rebell mackereitel hereintanzt. Ein provokationslustig witziger Anarcho-Außenseiter, der sich aus der Filmfassung des Stoffes auch das diabolische Grinsen seines Vorgängers Jack Nicholsen abgeschaut hat. Er will aufwiegeln, wachküssen – also das in den Mechanismus von Überwachen und Strafen einbringen, was diesen zerstört: Lebensfreude, Vitalität, Spaß.
Bald werden die autistischen Körperverrenkungen der Insassen geschmeidiger, offener, finden zu Pas de deux zusammen. Während Ratched mit Lärmfolter weiter daran arbeitet, ihre Patienten als handzahm ferngesteuerte Puppen abzurichten. Dabei zerbröselt der sonst forsch perkussiv mitrevoltierende, live von „Jayrope“ mit Gitarre und Loops fabrizierte Soundtrack.
Choreograph Samir Akika konzentriert den Romanstoff auf den Nervenkrieg sturer Mann vs. sture Frau: Freiheit gegen Unterdrückung, lässiges Chaos gegen strenge Herrschaftsstruktur, Lust gegen Disziplin. Ihre Triumphe genießt Ratched geradezu in Ballerina-Manier mit zickezackig-formidablen Solo-Einlagen. Bei Niederlagen knicken ihr die Beine weg. Etwa als ihr Gegenspieler ihren Schutzbefohlenen eine Party schmeißt. Sie tröten die klassische Musikbeschallung fröhlich nieder, kippen Biere und psychodelische Pillen in sich hinein und lassen sich von einer Blondine erotisch aufputschen. Dem besonders verklemmten Stotterer spendiert sie einen Akt der Befreiung. Klar, dass die Rache dann nicht süß, sondern bitterböse ausfällt: mit Stromstößen wird der Aufrührer paralysiert. Sein Tanzen ist nunmehr ein Stolpern. Bis er vollends apathisch erstarrt – als Clownsstatue der gescheiterten Revolution.
Wer den Film gesehen hat, erkennt alle wichtigen Szenen wieder und staunt, dass sie auf der Bühne viel lebendiger wirken. Denn stets sind alle Darsteller irgendwo kunstvoll eigenwillig in Bewegung. Man kann sich gar nicht sattsehen. Tänzerisch ist der Abend also ein Fest. Aber was gewinnt der Stoff – übersetzt in Handlungsballett? Nichts zu spüren ist von einer Reanimation oder Neubewertung der 1960er-Jahre-Emphase, das Bewusstsein der Realität mit Drogen, Musik und Literatur zu erweitern. Der Ausbruch des Indianerhäuptlings in eine neu zu entdeckende Welt – findet als Finale des ganzen Zinnobers gar nicht mehr statt. Liebevoll verliert sich die Choreografie im detaillierten Ausformulieren der ausgewählten Szenen – so siegt der Schau- über den inhaltlichen Mehrwert. Nach seinem Jacques-Tati-Abend „Die Zeit der Kirschen“ ist Akika das nun zum zweiten Mal passiert.