Foto: Ivy Amista (Phrygia), Osiel Gouneo (Spartacus) und das Ensemble © Wilfried Hösl
Text:Vesna Mlakar, am 22. Dezember 2016
Kaum ein Handlungsballett ist so mitreißend und zugleich befremdlich wie „Spartacus“. Geradezu magisch scheint dieses Historiendrama um den geschichtlich verbürgten Gladiator Spartacus Tänzer anzuziehen. Bolschoi-Übervater Yuri Grigorovich übersetzte es 1968 in martialisch-brutale wie elegische Ballettpower: Männer beherrschen den Großteil des Dreiakters – kampfeslustig und durch zahlreiche Aufmärsche, diverse Schlachtformationen und endlose Sprungfolgen körperlich aufs Äußerste gefordert. Legionäre marschieren im Stechschritt und revoltierende Sklaven hechten in hohen Sprüngen über die Bühne.
Lyrische Passagen sind die Ausnahme in dem pompösen Spektakel, das keine inhaltliche Entwicklung hat und von mal kriegerischen, mal orgiastischen Energieschüben regelrecht explodiert. Dazu kommt Aram Chatschaturjans Musik, die von Anfang an sehr bildstark und dominant ist. Am Ende wird der Sklaven-Aufstand durch Crassus blutig niedergeschlagen. Heroisierung pur. Davon lebt Grigorovichs „Spartacus“. Der zu Russlands prominentesten Tanzschöpfern des 20. Jahrhunderts zählende Choreograf landete damit jedenfalls vor 48 Jahren am Bolschoi-Theater einen beispiellosen Erfolg. Das dreistündige Werk (inklusive zwei Pausen) wurde am Uraufführungsort schnell zum Dauerbrenner und exporttauglichen Markenzeichen eines neuen sowjetischen Ballettstils.
Im Gegensatz zu den Fechtszenen in John Crankos „Romeo und Julia“ geraten die Kämpfenden in „Spartacus“ allerdings trotz ständigen Schwertgefuchtels nie richtig aneinander. Unter motorisch zumeist aggressiver Maximalanstrengung wird das gesamte Corps de ballet fast jeglicher Individualität beraubt. Ihr holzschnittartiges aneinander vorbeidriften und repetitives Gebaren (Gesten und Schritte werden wie ein Mantra häufig wiederholt) ermüdet über drei Akte hinweg. Kann ein solches, tanzhistorisch fraglos bedeutsames Stück, auch im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts überzeugen?
Für die beiden Superhelden – den römischen Feldherrn Crassus und seinen Widersacher Spartacus, der sich aus der Sklaverei befreit und zu totbringender Rebellion aufschwingt – bedeutet Rollengestaltung hier zirzensischen Wahnsinn. Kraftraubende Expressivität, die sich bei Sergei Polunins Debüt als Crassus in gewaltgeladenen Sprungakten zeigt. Grausam-imposant durchscheidet er die Luft, um mit der Schwungdynamik von Beilhieben wieder zu landen – ein Schwert oder das adlergekrönte Machtzepter des römischen Reichs in Händen. Schon sein erstes Entree macht über diesen Charakter alles klar: Über die monumentale Schlachtformation klischeehaft kostümierter Legionen schleudert er den brutalenBlick des gnadenlos ehrgeizigen Eroberers Richtung Publikum.
Im Privaten folgt Crassus, ein sadistisch veranlagter Typ, seiner nicht minder nach Reichtum und Ruhm strebenden Mätresse Aegina. Mit den frivolen Reizen ihres Körpers hält sie Crassus bei Laune. Eine Partie, der man als Zuschauer eher wenig Sympathie entgegenbringt. Dabei kreiselt Natalia Osipova mit den Fingern ihrer zum Krönchen geformten Arme am Haarscheitel kokett-virtuos durch das monochrome, stark vereinfachte Kulissengemäuer der nachgemachten Uraufführungsdekorationen von Simon Virsaladze. Die Facetten dieser Figur herauszustellen, ist für sie ein technischer Klacks – ebenso wie Grigorovichs vertrackte Hebungen.
Dennoch kann sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeit für ballettakrobatische Erotikübungen wie den peinlich-plakativen Stabtanz im dritten Akt, mit dem Aegina Spartacus‘ Männer ablenkt und freizügigen Begleiterinnen zuführt, definitiv vorbei ist. Als Direktor einer mitteleuropäischen Staatsballettkompanie hätte Igor Zelensky diese Problematik vorab bedenken sollen und für eine Repertoireübernahme zumindest eine passagenweise Überarbeitung anstreben können. Zudem wurde das Stück in seiner muffig-altbackenen Ausstattung belassen – mit Kostümen und Requisiten, die für heutige Augen comiclastig und abgegriffen wirken.
Schade um die vertanen Chancen, nachdem das frisch zusammengewachsene Bayerische Staatsballett in den vorherigen Wiederaufnahmen Großartiges geleistet hat. Nun mussten sich selbst eingefleischte Nostalgiker am Ende der Premierenvorstellung einen schalen Eindruck eingestehen. Den musealen Touch des revolutionären Stücks unter Beibehaltung aller Originalaufführungskonditionen hinter sich zu lassen, ist – wider Erwarten aller Einblicke im Vorfeld und toller tänzerischer Leistungen – nicht wirklich gelungen.
Dabei sorgte Dirigent Karen Durgaryan mit dem Bayerischen Staatsorchester für bombastische Klangeffekte. Aram Chatschaturjans Komposition treibt die Tänzer oft in folkloristischer Manier an. Einigen mag das auf den Wecker gehen. Gepaart mit choreografisch wuchtigen Schaubildern wie dem finalen Totenrequiem für den gefallenen Spartacus, ist die Musik ein Erlebnis.
Nicht missen möchte man außerdem die artistisch fein ausgearbeiteten Höhen und Tiefen des zweiten Hauptpaars: Als Spartacus hat Premierenbesetzung Osiel Gouneo dank seiner Begabung, mühelos ganze Diagonalen mit hohen Spagatsprüngen zu durchmessen, leichtes Spiel. Seine Bewegungen suggerieren den Freiheitsdrang per Definition. An seiner Seite durchläuft Phrygia die insgesamt interessanteste Entwicklung. Es ist eine emotionsheftige Paraderolle für Ivy Amista. Sie tanzt so intensiv, dass man sie kaum wiedererkennt. Wenn sie mit offenen Haaren um Spartacus trauert, überwältigen ihre Gefühle ganz unmittelbar. Dafür kann es nur Jubel geben. Über 20 Minuten lang. Ohne ein einziges Buh werden Yuri Grigorovich und seine beiden Assistenten Ruslan Pronin und Oxana Tsvetnitskaya gefeiert. Schließlich haben die Münchner Tänzerinnen und Tänzer aus dem an sich überholten Werk das Bestmögliche herausgeholt.