Kollektiv-brutales Lachen
Insbesondere zum Schluss wird der Saal in die sogenannte „Hinrichtung Harrys“ mit einbezogen. Der des Mordes an einem Mädchen im Spiegelkabinett angeklagte Darsteller wird live gefilmt. Ewiges Leben oder einmaliges Auslachen? – Über die Strafe soll auch das Publikum entscheiden. Nach 80 Minuten kulminiert Monteros „Steppenwolf“ in einem kollektiven, herzlich-brutalen Lachen. Zwar wurde den Zuschauern deutlich signalisiert, mit einzustimmen, wirklich trauen sich das aber nur wenige. Also lachen sich die Tänzer über Harry Haller und uns – ihr Publikum – schier kaputt. Das ist erschreckend und großartig zugleich. Ganz plötzlich schlägt die Stimmung um. Ernst verdüstert die Gesichter. Das Licht erlischt.
Um sein überzeugendes Figurenarsenal einzuführen, benötigt der Choreograf zu Beginn nur wenige Minuten. Da ist zuerst diese spinnenartig auftretende Tänzerin im hautengen Trikot mit verspiegeltem Helmvisier. Ihr folgen Tänzerinnen und Tänzer in Hosen und Shirts, Doppelgeschöpfe unter weiten grauen Mänteln sowie eine ganze Menagerie von nur halb menschlichen Wesen, die Tiermasken tragen. Dazwischen flitzt auf allen Vieren ein Tänzer mit realistischem Wolfskopf umher. Über seinem Rücken flattert ein heller Pelz. Er beißt ein Huhn. So schnell wie er begonnen hat, ist der rasante Spuck auch schon vorbei. Und die Zuschauer stecken bereits mittendrin in einer höchst aufregenden Tanzadaption von Hesses „Der Steppenwolf“.
Alle Gestalten sind urplötzlich nach einem beeindruckend spontan wirkenden System aufgetreten und schnell wieder durch die verschiedenen Türen einer metallenen Wand verschwunden, deren t-förmige mobile Einheiten bald ebenfalls ein seltsames Eigenleben entwickeln. Je nach Ausrichtung sieht man auf rotgepolsterte oder verspiegelte Wandsegmente. Von meist nicht sichtbaren Tänzern bewegt, verändern diese zugleich mit ihrer Position auch die Atmosphäre und den gesamten Bühnenraum. Allein schon was Nürnbergs Ballettchef choreografisch mit diesen Ausstattungselementen anstellt, lohnt den Besuch seiner pausenlosen Neuproduktion.
Mit einer unglaublichen Detailversessenheit hat sich Montero auf neues Terrain vorgewagt und mit seinem fantastischen Ensemble eine famos dichte, ideenreiche Tanztheater-Show in multimedialer High-End-Qualität auf die Bühne gebracht. Hesses Gedicht über den Steppenwolf mutiert zum Song – komponiert von Monteros kongenialem musikalischen Partner Owen Belton. Die Strophen singt ein Tänzer beherzt live auf der Bühne mit. Doch dieses Lied ist bei weitem nicht der einzige originelle Bestandteil des eigens von dem Kanadier Belton neu komponierten Soundtracks. Man hört schöne orchestrale Passagen heraus, kurze jazzige Anklänge, knarzige Geräusche, Stimmen, klangliche Verfremdungen und zu einem rabiaten Männertrio ein Peitschen, wie es auch Hesse in einer seiner Buchszenen beschreibt.
Zitate statt Nacherzählung
Die enge Verknüpfung mit der literarischen Vorlage gelingt Montero allerdings nicht etwa durch ein tänzerisches Nachbeten der Passagen. Dazu ist er ein viel zu kluger und eigenwilliger Theatervisionär. Statt in die Falle bloßen Nacherzählens zu tappen, hat er sich für ein eigenes Libretto aus Originalzitaten entschieden, die seine Darsteller mal solistisch, mal chorisch live sprechen.
Was die international aufgestellte Ballettkompanie in dieser Inszenierungskombi aus Tanz, Schauspiel, Musik, Sound und Video über die komplexen rein choreografischen Herausforderungen hinaus leistet, ist beachtlich. Dass durchweg Englisch gesprochen wird, mag verwirren – es kommt der Choreografie aber dort zugute, wo Montero Bühnenmagie und Erlebnis „Theater“ per se als Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Publikum zu einem weiteren Gegenstand seines Stücks werden lässt. Tatsächlich hat Montero seinen „Steppenwolf“ erstaunlich vorlagengetreu konzipiert, obwohl er – was zu erwarten war – auch sehr eigene Akzente setzt.
Hesses „Steppenwolf“ den Aktionskünstler Joseph Beuys als zweite wichtige Inspirationsquelle für die optische Dimension, die materielle Haptik und das wesenhaft Ungezügelte seiner Fassung zur Seite zu stellen, zählt zweifelsohne dazu. Der Beschäftigung mit Beuys verdankt das Ensemble bildgewaltige Auftritte mit Äxten, die gefährlich durch die Luft sausen. Seinen „Steppenwolf“ hat Montero außerdem um Beuys Aktion „Der anonyme Zuschauer“ ergänzt – als „neues Herzstück“, wie er im Programmheft schreibt.
Außergewöhnlich ist, dass trotz der Fülle an formalen Bestandteilen, inhaltlichen Verweisen und verstörenden Aktionen nichts je ins dramaturgisch Leere läuft. Stets verbinden sich Set, Kostüme, Ton, Choreografie und Worte – ob rezitiert oder auf einen Hintergrund projiziert – zu einem Amalgam, das bildstark, effektvoll oder inhaltlich unmittelbar verständlich enorme Wirkung entfaltet. Die von Anfang an geschickt neu eingeführte Beuys-Figur „Der anonyme Zuschauer“ entwickelt sich vom stumm vermummten Schildträger in einem zentralen Solo zum schillernden Star des Abends, der Harry Haller teuflisch gut auf seiner Suche nach dem richtigen Ich den Weg in sein verrücktes magisches Theater weist. Eine tolle Abschiedsrolle für Victor Ketelslegers, der seit Kurzem in Göteborg tanzt.