Szene aus "Giselle"

Wo bist du, Giselle?

Mario Schröder: Giselle

Theater:Oper Leipzig, Premiere:20.04.2024 (UA)Musikalische Leitung:Matthias ForemnyKomponist(in):Adolphe Adam, Sjaella, Laura Marconi u.a.

Zum Ende seiner Ära in Leipzig bringt Mario Schröder den Ballett-Klassiker „Giselle“ auf die Bühne. Die Liebesgeschichte wird mit neuer Musik, neuen Texten und Ideen etwas überfrachtet. Dennoch entstehen in der Leipziger Oper großartige Bilder.

„Giselle“ von Adolphe Adam ist einer der unverwüstlichen Klassiker des Genres. Zusammen mit Tschaikowskis „Schwanensee“, „Dornröschen“ oder dem „Nussknacker“ und einer Handvoll weiterer ererbter Prachtstücke aus dem 19. Jahrhundert sind diese großen Handlungsballette immer noch so etwas wie das Lebenselixier und auch eine wichtige Legitimation für jede große Ballett-Compagnie. An der Oper Leipzig gab es „Giselle“ nun in einer Neufassung des scheidenden Ballettdirektors und Chefchoreografen Mario Schröder.

Dafür teilte sich das unter Leitung von Matthias Foremny fabelhaft auf eigenem, romantischen Terrain schwelgende Gewandhausorchester diesmal den musikalischen Beitrag des Abends mit den sechs Solistinnen des Leipziger Vokalensembles Sjaella und der Perkussionistin Xizi Wang. Das Orchester natürlich im Graben, die Perkussionistin auf einer fahrbaren Insel und die Solistinnen ins Bühnengeschehen integriert und einmal auch von der Loge aus. Ihnen blieb der szenische Abgangscoup eines langsamen Entschwebens gen Schnürboden vorbehalten. Da Sjaella „Seele“ heißt, trifft sich in diesem Bild der Name der Ensembles pathetisch mit der Pointe des Stückes, während die Solistin bei sinkendem Vorhang zu Boden geht.   

Frauen mit weißen Federflügeln hocken auf einer Bühne, davor bewegen sich weitere Personen in Schwarz auf dem Boden.

Musik und Tanz werden von dem Leipziger Vokalensemble Sjaella ergänzt. Foto: Ida Zenna

 

Komplexe Gedanken in Ballett-Form

Mario Schröder erzählt aber nicht einfach neu nach. Er sucht die bewusste Konfrontation des Erbes aus der Romantik mit der Gegenwart und ihren neuen (und immer noch alten) Herausforderungen, was die Stellung der Frau in patriarchalischen Verhältnisse betrifft. Mit einigen hermetisch poetischen Texten der Sjaella-Altistin Felicitas Erben, die (mit a capella Exzellenz!) gesungen oder mit Pathos gesprochen (und ohne Übertitelung) nur zum Teil verstanden werden können.

Liest man den zentralen „Wo bist Du?“-Text, den Laura Marconi (wie zwei weitere Texte) vertont hat, im Programmheft nach, stolpert man über den Satz „Das antike Griechenland gilt als die Wiege der Demokratie, obwohl die Hälfte der Bevölkerung explizit vom Wahlrecht ausgeschlossen war.“ Man fragt sich verwundert: War da nicht was mit Sklaverei, die auch Männer betraf? So kann’s gehen: woker feministischer Furor weitet nicht nur den Blick, er kann ihn auch verengen.

Überhaupt entsprach diese Nummer, die im ersten Teil des Abends unter der Szenenüberschrift „Widerstand – Female – Agitation – Hardfacts“ unmittelbar auf drei Nummern zu Adolphe Adams Musik folgte, eine Spur zu deutlich, dem (fairerweise angekündigten) Stichwort Agitation. Damit ist auch das Problem des Abends benannt. Ihm kommt nämlich die eigene, deutlich vor sich her getragene Ambition, dem Zeitgeist zu genügen, gelegentlich in die Quere bei der Entfesselung des Tanzes. 

Eine Person hockt vor sechs riesigen Gestalten mit langen, rotleuchtenden Röcken.

Mit der Solistin Yun Kyeong Lee geht Mario Schröder in seiner Leipziger Version der „Giselle“ der Titelfigur auf den Grund. Foto: Ida Zenna

 

Auf der Suche nach sich selbst

Die Geschichte von dem unglücklich in einen jungen Adligen verliebten Bauernmädchen Giselle und den sagenhaften untoten Willis (die selbst vor ihrer Hochzeit verstorben sind und in ihrem Geisterdasein ihrerseits Männer zu Tode tanzen) ist nur in einzelnen Sequenzen erkennbar. Sie bleibt aber Anregung und Material für eine Collage. Für ein bewusst postnarratives Spiel mit einer Vorlage, die dekonstruiert und deren Teile neu kombiniert wurden.

Dabei gelingen Paul Zoller, der Bühne, Kostüme und Videos beisteuert, grandiose Bilder. Das fängt schon mit den sich langsam aus der Erstarrung lösenden eingefrorenen Eröffnungstableaus mit der gesamten, beim ersten Mal in Weiß und dann in Schwarz drapierten Truppe. Oder der Wechsel der Zeiten durch die Kostüme für die Pas de deux‘ gleich drei aufeinander folgender Paare. Wobei die ausdrucksstarke Yun Kyeong Lee gleichsam als die Seele von Giselle immer präsent bleibt. Sie beobachtet so – wie wir als Publikum – die Suche nach sich selbst. „Wo bist du?“ ist eine zentrale Frage im Stück. Manche mögen sie möglicherweise auch an das Stück gestellt haben. 

Es wird wie immer in Leipzig klassisch bis expressiv getanzt. Schröder gelingen Ensembleszenen, die tatsächlich etwas über männliches Machogehabe und das Spiel mit den Frauen sagen. Frauen werden hier nicht auf Händen getragen, sondern durch die Luft geschleudert, weitergereicht oder achtlos weggeworfen. Immer aus der Musik kommende, intensive solistische Szenen wechseln mit homogenen Ensemble-Auftritten, die die Bewegung wellenförmig durch den imaginären kollektiven Körper fließen lassen. Am Ende wird eine virtuose Gemeinschaftsarbeit auf den Spuren von Giselle vom Publikum angemessen gewürdigt. 

Wie in einem Halbkreis legen sich mehrere Personen in Schwarz auf einer Person in Blau.

Die Leipziger Produktion von „Giselle“ überrascht mit großen Bildern. Foto: Ida Zenna

 

Ende einer Ära in Leipzig

Es war Mario Schröders Abschiedsinszenierung. Beim Schlussapplaus bekam er von allen Mitgliedern der Truppe, der er erst als Tänzer angehörte und die er in den vergangenen 14 Jahren als Chef und wichtigster Choreograf leitete und formte, eine Rose überreicht. Das Leipziger Ballett hat eine eingeschworene Fangemeinde. Wie eigentlich in allen Häusern, in denen diese Sparte gepflegt wird, ist sie auch in Leipzig eine sichere Bank für deren Auslastungsbilanzen.

Dass Schröder das Haus nicht freiwillig verlässt, hat er in einem Interview offen zu Protokoll gegeben. Am Ende bleibt ein Einerseits und Andererseits. Die einen würden wohl der alten Fussballerweisheit „Never change the winnig team“ folgen, die anderen mehr auf Hermann Hesses „Jedem Abschied wohnt ein neuer Anfang inne.“ hoffen. Bleibt doch in den großen Kollektiven, die Kunst produzieren, auch der gelegentliche, bewusst riskierte Wechsel an der Spitze ein Lebenselixier. Mit Risiko – wie im Leben, so in der Kunst.