Foto: Christian Bauch und Stefanie Knorr in "Peer Gynt" an der Semperoper Dresden © Ian Whalen
Text:Thilo Sauer, am 6. Juni 2022
Zusammengesunken lehnt der Mann an der linken Wand auf der Bühne der Dresdner Semperoper. Er scheint vor Verzweiflung zu vergehen, bis ein kleiner Junge mit Blockflöte auftritt. Er spielt die Melodie der „Morgenstimmung“ aus Edvards Griegs Peer Gynt-Suite, die sich gleich in den Köpfen des Publikums festsetzt und später gesummt durch die Gänge des Barockbaus wabern. Auch dem niedergeschlagenen Mann geben die Töne Hoffnung – immerhin ist es sein Ich aus Kindheitstagen, das spielt und ihn an sein Zuhause erinnert, zu dem der Titelheld Peer Gynt gleich rennt.
Die Kompositionen von Edvard Grieg genießen heute eine so hohe Popularität, dass sie fast zu den Werken gehören, die die Vorstellung von klassischer Musik prägen. Auch Menschen, die sich von Konzert- und Theatersälen fernhalten, kennen die Melodien. Doch das Stück „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen ist den wenigsten vertraut: Der „Faust des Nordens“ erzählt von einem verträumten Tunichtgut, der nicht so recht in die Dorfgesellschaft passen will. Als er wegläuft, gerät er in das Reich der Trolle, die ihn beinahe töten. Doch er findet zurück und baut sich ein beschauliches Leben mit Solveig auf, bis es ihn wieder in die Welt zieht, wo auf den schnellen Aufstieg der tiefe Fall folgt.
Choreograf Johan Inger hat sich in der Geschichte selbst wiedererkannt und verknüpft sein Handlungsballett „Peer Gynt“, das 2017 seine Uraufführung am Theater Basel feierte, mit der eigenen Biografie und Tanzentwicklung. Leticia Gañán und Curt Allen Wilmer haben dafür einen spannenden Bühnenraum geschaffen: Rechts und links stehen riesige, schwarze Kästen, aus denen wie aus einem Archiv einzelne Spielorte gezogen werden wie die Schwedenscheune von Peers Eltern oder das gutbürgerliche Wohnzimmer eines frisch verheirateten Paares.
Reise durch Tanzstile
Peers Mutter schiebt den kleinen Peer in einem Bett auf die Bühne und wirbelt ihn herum. Nach einer kurzen Zwischenszene wiederholt sich das Bild, nur dass jetzt der große Peer seine Mutter herumschleudert, die verängstigt schreit. Inger führt uns ein Dorfidyll vor, in dem es immer wieder Gruppenchoreografien gibt, die an die volkstümlichen Nummern aus klassischen Choreografien erinnern, ebenso wie die bunten Kostüme von Catherine Voeffray – eine Reminiszenz auf Ingers Zeit im klassischen Ballett. Auf der Hochzeit wird Peer von der Frau verführt und fällt in Ungnade. Dass Peer Gynt dabei relativ unschuldig wirkt, liegt sicherlich an der biografischen Verquickung, lässt aber auch ein seltsames Frauenbild auf der Bühne durchschimmern.
Im Hintergrund der Bühnen sitzt ein stummes Publikum, das uns zu spiegeln scheint. Nach seiner Flucht setzt sich Peer dazu und beobachtet, wie nacheinander Gestalten in komischen Kostümen die Bühne betreten und in eine Choreografie einstimmen, die wilder und ungewöhnlicher erscheint. Es ist die Choreografie „Gamla Barn“ von Mats Ek, in der auch Inger einst tanzte und die er als eine Erweckung bezeichnet. Dass die Füße hier nicht länger gestreckt, sondern immer angewinkelt sind, kann als ein Zeichen von Ungebundenheit und Wildheit verstanden werden, das auch später auftaucht. Nach diesem kurzen Ausflug muss sich Peer aus der Gemeinschaft losreißen.
Körpertheater statt nur Tanz
Auf seinem Weg trifft er schließlich den „Krummen“, eine Art Spiegelbild von Peer. Besonders in diesem Dialog, der tatsächlich mit Worten geführt wird, zeigt sich deutlich, dass dieses Stück über den Tanz hinausgeht. Der Tanz dominiert zwar den Abend, doch oft wird einfach nur miteinander gespielt als eine Art Körpertheater. Hin und wieder wird geschrien, wobei der Inhalt der Worte egal ist, weil die Stimmung des Moments im Vordergrund steht. Und schließlich ist Solveig gar keine Tänzerin, sondern eine Sängerin, die ihrer Sehnsucht mit Stimme Ausdruck verleiht.
In seiner Inszenierung setzt Inger wieder auf große Effekte und Humor. Im zweiten Teil wird Peer zum „Kaiser“ einer Tanz-Kompagnie und beim Vortanzen sorgen die Parodien einer Möchtegern-Primaballerina und eines Flashdance-Stars für große Lacher im Publikum. Der dritten Tänzerin folgt Peer nach Italien, wo der große Streit zum Gesang von Solveig-Darstellerin Stefanie Knorr in Slow Motion gezeigt wird. Dabei droht immer wieder die Gefahr, dass diese Tricks und der Humor den Tanz unter sich begraben.
Das Dresdner Semperoper Ballett aber kann an diesem Abend – der ersten Premiere seit Ausbruch der Corona-Pandemie – vollkommen überzeugen. Christian Bauch verliert als Peer während der gesamten Aufführung nie die Energie, beweist in den dramatischen und verzweifelten Momenten darstellerische Ausdruckskraft, wechselt aber mit Leichtigkeit in die Tanzbewegungen. Casey Ouzounis muss als Mutter Aase zunächst für viel Klamauk sorgen, zeigt dann aber das Sterben mit großer Andacht. Der tänzerische Chor jedoch überzeugt am meisten, wenn er in die Synchronität findet, aus der sich häufig auch Soli und Duette herausschälen. Musikalisch behält Thomas Herzog das Zepter in der Hand und schafft es, die musikalischen Wechsel in Griegs Schauspielmusik (die mit anderen Stücken erweitert wird) punktgenau auf den Tanz abzustimmen, sodass der Abend eine wunderbare Dynamik entwickelt. Auch der Sempernopernchor, der seinen großen Auftritt in der Höhle des Trollkönigs hat, überzeugt mit ähnlicher Energie, während Knorr mit zu Solveig passender Zartheit für sich einnimmt.
Während Choreograf Johan Inger gerade noch auf dem Höhepunkt seiner Karriere ist, muss die Geschichte seines Alter Egos Peer Gynt schon zu Ende erzählt werden. Hier kommt das Konzept an seine Grenzen: Gestalten in schwarzen Kapuzenmänteln kommen auf die Bühne, die es vor allem ermöglichen, vorherige Figuren nochmal kurz auftauchen zu lassen. Darin spiegelt sich vielleicht die Arbeit an diesem Ballett wieder, aber es wäre auch die Gelegenheit für Inger gewesen, eine Vision zu entwickeln. So endet der Abend mit einem großen Effekt, der vor allem für Rührung sorgen soll.
Das alles kommt beim Publikum gut an, dass das Dresdner Ballett-Ensemble mit Standing Ovations feiert. Zu Recht, denn die Tänzer*innen überzeugen mit Energie, Vielseitigkeit und Ausdruck. Die Inszenierung jedoch schießt vereinzelt über ihr Ziel hinaus.