Foto: Niklas Jendrics (Der Richter) in „Geschlossene Spiele“ © Ingo Schäfer
Text:Ulrike Kolter, am 2. Oktober 2021
Auch wenn Demis Volpis erstes Handlungsballett als Chefchoreograph an der Rheinoper nur eine Stunde misst: Hinterher sprudeln einem Kopf und Herz über vor Eindrücken von humoristischen Miniaturszenen und liebevoll entworfenen Charakteren, bei denen jeder und jede eine eigene Tanzsprache auf den Leib geschneidert bekommen hat. Mit „Geschlossene Spiele“ nach einem Schauspiel des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar konnte Volpi nun endlich seinen gebührenden Einstand in Düsseldorf geben, was ihm in der letzten Spielzeit verwehrt war. Das künstlerische Team an seiner Seite muss hier gleich zu Beginn mitgenannt werden, denn die Bühne von Heike Scheele verzaubert ebenso wie die Kostüme von Katharina Schlipf und die Lichtregie von Bonnie Beecher.
Irgendwo in Buenos Aires
Wir befinden uns in einem Lokal irgendwo in Buenos Aires zur Zeit der Militärdiktatur: holzvertäfelte Wände ohne Fenster, eine Schiebetür lässt sich nur gelegentlich öffnen, die Uhr steht still, Schatten von Ventilatoren und Neonröhren verbreiten Zeitlosigkeit, ein Pförtner langweilt sich und schon bei Eintritt des Publikums (mit Maske im vollbesetzten Saal!) sitzt da ein kreideweißer Mann mit Melone, kippelt filigran und jongliert seinen Hut auf dem Gesicht, hat vor sich auf dem Tisch ein ebenso kreideweißes Arrangement von Gegenständen: Glas, Pfeffermühle, Flasche. Dieser Mann in Weiß (Orazio Di Bella) wird zum Strippenzieher und Namensgeber des Abends, denn „Geschlossene Spiele“ sind Eröffnungsvarianten im Schach. Später wird er die Zeit sekundenlang im Tacet anhalten, alle Figuren neu postieren – und final den König vom Tisch stoßen…
Doch die Schachmetapher ist nur eine von vielen Ebenen, die Demis Volpi hier anlegt. Vor allem entwirft er meisterlich eine magische Welt, in der Unbekannte, Suchende, Unglückliche aufeinandertreffen: Da sind zwei Kellner mit Schnauzbart, die in synchronen Trippelschritten seitwärts für den ersten Kollektivlacher im Publikum sorgen und Tische und Stühle zurechtrücken; da ist eine amerikanische Touristin (Simone Mess), blondgelockt mit Cowboyhut und Jeans, die die Männer zu verzücken sucht und später, umgekleidet, ein fulminantes Solo auf Spitze hinlegt. Es gibt weiterhin das Revoluzzer-Paar Gina und Franco, die zu Trommelwirbel in hippen Turnschuhen tanzend Flugblätter verteilen und ebenso schnell wieder verschwunden sind. Da wäre der unbekannte Kunde mit Koffern (Dukin Seo), die als Metapher des ewig Reisenden von ihm grazil wie erbarmungswürdig mit allen Gliedern balanciert, geschleppt und geschoben werden. Und es tritt ein unsympathischer Gast namens Lopez (Eric White) auf, der tief gebückt einen ihm zugewiesenen Tisch nach Krümeln abschnüffelt, nervös knaupelt, in eckigen und ungelenken Schrittfolgen sein unsympathisches Erscheinungsbild unterstreicht.
Zentrale Figur aber, die Inkarnation aller Moral sozusagen, ist ein Richter in schwarzer Robe, dessen psychotisches Agieren von Paukenschlägen (hinter der Bühne: Kevin Anderwaldt), untermalt wird. Niklas Jendrics tanzt ihn mit fulminanter Bedrohlichkeit und weit aufgerissenen Augen, anklagend den rechten Arm samt Zeigefinger ausgestreckt, den er bald wie eine Machete schwingt, bald sich selbst damit im Wahnsinn umklammert oder ihn seitwärts sich vor den Mund schiebt. Seine asketische Lebensweise – nur streng abgewogene Karotten – liegt im Zwiespalt dieser kümmerlichen Existenz: Macht über andere wollen, oder Macht über sich selbst haben? Radiomeldungen über ein soeben gefälltes Urteil mit Todesstrafe lassen ahnen, mit welcher Schuld er hadert.
Auf drei musikalischen Ebenen
Die Pauken sind eine von drei musikalischen Ebenen, mit denen der Choreograph sein kleinteiliges Arrangement unterfüttert. Eine weitere ist das Radio, aus dem Tango, Walzer oder argentinische Kinderlieder tönen. Zudem sitzt an der Bühnenseite der Pianist Alexander Ivanov, der ins Geschehen integriert wird.
All diesen Figuren ist die Passion Demis Volpis für den magischen Realismus der Literaten seines Heimatlandes deutlich anzumerken. Stellenweise wünscht man allerdings, dieses formidable Ensemble würde mehr tanzen, weniger an den Lokaltischen sitzen – gerade wegen der herausragenden tänzerischen Momente. Letztlich ist „Geschlossene Spiele“ ein Schauspiel, wenn auch ein handlungsarmes – und die Mitglieder des Balletts am Rhein können beweisen, welche darstellerischen Fähigkeiten sie besitzen. Das ist der Vorteil von Tanz gegenüber Sprache: Man kann soviel parallel erzählen.