Transformationen im Theater
Dieses Überschreiten, auch im Sinne von Verwandeln/„Transformation“, bietet also der Schauspieler Pierre Bokma als Orfan schon in der Eingangsszene dar. Er gebe sich, je nach Jahreszeit, als Mann oder als Frau aus, mit Kleidung und Perücke. Aber er wollte nie eine Operation, sagt er. Er ist der rote Faden der Inszenierung, lokalisiert im Rotlichtviertel Amsterdams. Mal spricht er, mal schaut er von der Seite zu. Trägt Anzug und Brille, meist aber ein bleichrosa Unterkleidchen, Pumps und die Perücke in der Hand. Wie im Zwischenstadium.
Er bleibt nicht allein. Es treten zuweilen noch auf: Wilhelm (William Cooper, der auch einen langhaarigen Jesus andeutet), die Anwältin Ivana, die sich für lügende Gesichter interessiert, und Kinga Xtravaganza, Puffmutter. Die beiden Letzteren werden von der Bochumer Schauspielerin Stacyian Jackson verkörpert. Dazu sechs Tänzerinnen und Tänzer, tanzend oder sprechend.
Orfan aber, Beruf Sexarbeiter/in, geht bis zum Ende. Er, der vermeintliche oder selbsterklärte Waise, rächt sich oder entledigt sich seiner Vergangenheit, wie er es bezeichnet. Er bringt, wie er berichtet, jemanden vom Leben zum Tod, über die Grenze. Während per Bibelzitat von Jesus‘ Auferstehung die Rede ist. Väter als Problem. Die Herkunft. Glauben.
Reize überschlagen sich auf der Bühne
Englisch und Deutsch – die Inszenierung mischt locker die Sprachen, hilft mit Übertiteln. Die Zitate aus dem Neuen Testament gehören einer Siri-Stimme, die körperlos ihre Stellen aufsagt. Sie mahnen und versprechen und einmal erzählen sie von einem Kind mit einem epileptischen Anfall. Jesus heilt es.
Was es mit der Epilepsie auf sich hat und was sie in Hirn und Körper auslöst, darum geht es auf der Bühne weniger als in dem Text, auf dem das Stück basiert. Erst das herrliche laute Durcheinander einer späten Szene spielt auf die extrem gesteigerten Sinneswahrnehmungen an. Auch die zwei Lichtkreise, wie Sonnen, die zeitweise am Bühnenhimmel prangen.
Text im Walzer-Takt
Der Text „Voodoo Waltz“ der slowenischen Autorin Janja Rakuš, 2014 auf Englisch publiziert, liest sich wie der poetische Versuch, solche schmerzhaften Explosionen in Schach zu halten und sie gleichzeitig zu ehren wie Offenbarungen. Sich grenzenlos auszufasern und sich zu verbinden. Mit Sinn und Verstand und Halluzinationen. Mit dem oben erwähnten Orfan-Monolog beginnend, setzt der Text meist viel kürzere Passagen aneinander oder nur Sätze oder Wörter, „click, click“.
Wiederholungen, Zitate, YouTube-Links, Referenzen zu Korruptionsskandalen in Slowenien und vieles zu Vincent van Gogh, Arthur Rimbaud, Fjodor Dostojewski und Epilepsie-Medikation. Rakuš verfasste ihn nach einer langen Wanderung auf dem Jakobsweg. Und das Gehen, „rechts, links“, und ein „3, 2, 1“ treiben den Walzer an. Bis zum pornographisch-mythologischen Ende.
Meister im Tanz
Während auf der Bühne zwei unermüdliche Stunden lang diese Figuren reden und dabei sitzen, liegen, sich schminken, gehen, abtreten, auftauchen, sind die Tänzerinnen und Tänzer still an ihrer Seite. Manchmal übernehmen sie die Bühne oder selber Rollen. Wie den grobianisch labernden Taxifahrer: Boston Gallacher, im Gesicht Lippenstift, öffnet die Knie. Zuweilen tanzen alle, Schritt rechts, links, gemeinsam, eine kleine Show. Oder posieren wie für nette Gruppenfotos, spreizen sich.
Die Opstals kommen aus den Niederlanden, haben früher weltklassemäßig getanzt, im Nederlands Dans Theater (NDT) und in der Batsheva Dance Company. Seit einigen Jahren choreografieren sie als Geschwisterpaar oder -kollektiv. Deshalb degradieren sie den Tanz hier nicht zum hübschen Beiwerk oder symbolistischen Herumgeistern.
Einheit zwischen Körper und Geist
Manchmal aber kippt es fast. Wenn diese Klassetänzerinnen und -tänzer, die früher beim NDT arbeiteten, elegant und spitzfüßig agieren, so fluffig einander umgarnen, die Beine zum Himmel strecken, allerlei gerade Linien bauen, die Arme rotieren, wenn ein Mann die kleinere Frau dauernd anhebt, stützt, an Hand oder Hüfte zieht. Da ist der Irrwitz weit. Oder er besteht darin, dass Menschen sich so bewegen können.
Die Schönheit, die sie hier so ungebrochen und ungestört performen, steht auch für die Verbindung von Körper und Geist, die unter dem Christentum litt. Zwar strahlen sie keine Sexiness aus, das tut Schauspielerin Stacyian Jackson körperwölbend in ihrem furiosen Kinga-Solo samt karibischem Kreol-Einschlag. Aber „Schönheit des Lebens“ steht auch im Text.
Spannender Versuch im Theater
Ramon John, vom Hessischen Staatsballett geborgter Tänzer, knapp bekleidet, wirkt mit seinen langen Gliedmaßen und den recht breiten knöchernen Schultern wie ein Avatar. Ein Geist, der sich später am Boden faltet, biegt und reckt, wie er es schon in „I’m afraid to forget your smile“ der Opstals in Wiesbaden-Darmstadt vollführte, das 2023 für den FAUST nominiert wurde. Er demoliert das Ebenmaß, als suche er etwas Wahrhaftigeres, Gutes, als grabe er.
Die vielen oder riesigen Dimensionen, in denen „Voodoo Waltz“ von Rakuš herumwandert und -klettert, dampft die Bühneninszenierung ein, die Tom Visser feinfühlig hell und auch mal grell rot beleuchtet und Amos Ben-Tal mit Gitarren- und Technoklängen grundiert. Das macht das Geschehen begreifbarer, nimmt ihm aber etwas die Höhenluft und Verrückung. Das Stück ist kein ganz großer Wurf, dazu spielt es zu brav mit den eigenen Grenzen, ist aber als Versuch gelungen.