Foto: Margarida de Abreu Neto, Mason Manning und Jemima Rose Dean in Richard Siegals einzigartiger Tanz-Uraufführung "New Ocean". © Thomas Schermer
Text:Verena Blatz, am 28. September 2019
Das Licht ist auf den Zuschauern, die Bühne liegt noch im Dunkeln. Es erklingt eine Musik, wie aus einer Jukebox. Das Zuschauerlicht geht langsam aus und die Bühne zeigt einen großen, auf dem Boden liegenden Kreis. Es wirkt, als würde eine dünne Schneeschicht die Bühne bedecken, die von drei weißen Wänden gerahmt wird. Als drei Tänzer die Bühne betreten und zu tanzen beginnen, ist es still. Die Kostüme stellen ihre Körper aus und heben Geschlechteridentitäten auf.
Die Tänzer sind ganz bei sich und tanzen individuelle Bewegungsabläufe. Zielgerichtet treten sie auf und vollführen ihre Tänze wie eine Aufgabe, wobei jeder an einer anderen Aufgabe zu arbeiten scheint, jeder in seiner eigenen Welt. Wie Skulpturen halten sie plötzlich inne, scheinen, im wahrsten Sinne des Wortes, einzufrieren in ihrer eisigen, weißen Umgebung.
Siegals Ballet of Difference benutzt Elemente des Klassischen Balletts alternierend mit Bewegungsformen des Modern Dance. Sequenzen werden geloopt oder an anderer Stelle wiederholt. Immer wieder legen sich einzelne der insgesamt acht Tänzer auf den Boden, während die anderen ihre Abläufe fortsetzen. Einer der Männer tanzt durchgängig Spitze: Hier wirkt der klassische Tanz wie zitiert – der Spitzentanz als ursprünglich „weibliche Domäne“ wird hier zum choreografischen Muster eines männlichen Tänzers (fantastisch: Long Zou). Das Licht markiert den Verlauf der Zeit und wir sehen die Tänzer wie Schattenfiguren, wie tanzende Scherenschnitte. Elektronische Sounds und minimalistische Tonfolgen durchbrechen unvermittelt die Stille. Getanzt wird auf einer sich verändernden videoprojizierten Eisfläche: Eiskristalle, die sich verschieben und Muster bilden. Elektronische Sounds und minimalistische Tonfolgen durchbrechen unvermittelt die Stille. Man denkt an schmelzendes, knirschendes und knisterndes Eis.
Weißer Rauch dringt durch herabfahrende Röhren auf die Bühne und umhüllt Tänzer und Zuschauer. Er hebt die Grenze auf zwischen Agierenden und Zusehenden. Als wären sie miteinander verbunden in dieser eisigen Umgebung. Dabei ist die Stille des Raums so präsent, dass der Atem der Tänzer hörbar wird. Am Ende ist die Bühne leer bis auf den Rauch, der im Laufe des Stücks zugenommen hat. Mit einem lauten Knall fällt die den Zuschauern gegenüberstehende hintere Bühnenwand auf die Bühne und stößt dem Publikum den Qualm ins Gesicht. Damit werden wir Zuschauer auf uns selbst zurückgeworfen. Wir zerstören unsere eigene Welt. Es sind unsere Abgase, die uns ins Gesicht wehen. Wir selbst haben das Schmelzen des Polareises zu verantworten.
„New Ocean“ begründet die Zusammenarbeit von Richard Siegal und seinem Ballet of Difference mit dem Schauspiel Köln als festem Tanzensemble. Das Stück ist inspiriert von Merce Cunninghams Stück „Ocean“ von 1994, das in Zusammenarbeit mit John Cage entstand. Cunninghams Stück wurde auf einer kreisförmigen Bühne inszeniert, eingerahmt von einem Orchester von 150 Musikern. In Cunninghams Stück ging es John Cage darum, dass Bewegung und Musik keine direkte Verbindung zueinander haben. Genauso hat Siegal sein Stück ohne Musik entwickelt, wodurch die Erarbeitung der Choreographie im Zentrum des Probenprozesses war. Die Musik, ein Soundscape aus elektronischen Klängen, wurde erst ganz am Ende der Proben hinzugefügt.
In „New Ocean“ entwirft Siegal (zusammen mit dem Lichtkünstler Matthias Singer) ein mathematisches System, das mittels eines eigens entwickelten Algorithmus Datensätze des Klimawandels in choreografische Handlungen übersetzt. So basiert die Choreografie auf einer grafischen Darstellung des Ausmaßes, in dem das Polareis die Meere in der Polarregion bedeckt. So technisch diese Methode klingt, ermöglicht sie trotzdem die besondere Einzigartigkeit jeder einzelnen Vorstellung. Siegals „äußeres“ Material für seine Choreografie sind 13 Polarmeere, deren Veränderung und letztendlich die Verringerung des sie bedeckenden Eises im Zeitraum von 25 Jahren, angefangen 1994 (dem Jahr der Uraufführung von Cunninghams „Ocean“) bis heute.
Das „innere“ Material sind vom Choreografen entwickelte Bewegungsmuster, die die Tänzer ihrerseits bearbeiten und verwandeln. Im Verlauf der kommenden vier Monate wird die choreografische Umsetzung der grafischen Darstellung von 13 verschiedenen Polarmeeren gezeigt. Das bedeutet, dass jede Aufführung auf einem anderen grafischen System gründet und somit einmalig ist. Die Uraufführung vom 27.09.2019 basierte auf dem Polarmeer Baffin. Es ist eine Choreografie, die von den Daten des Eises abhängt. Das bedeutet, dass in einer möglichen wahrscheinlichen Zukunft, wenn es kein polares Eis mehr geben wird, dieser Tanz nicht aufgeführt werden kann. Richard Siegal sagt über sein Stück: „Dieser Tanz wird verschwinden.“
Am Aufführungsabend war dieser Tanz aber noch sehr präsent. Zurück bleibt eine Stimmung, die Beklommenheit und Begeisterung in sich vereint: der Klimawandel als großes, allgegenwärtiges Thema, umgesetzt in ästhetisch vollkommenen Bewegungen. Standing Ovations und johlender Beifall für die Tänzer, den Choreografen und das Team beschlossen diesen besonderen Abend.