Da ist der Konflikt, um den es Kratzer geht, auch weil er ihn in den Briefen Wagners aus der Entstehungszeit des „Tannhäuser“ entdeckt hat. Hin und her gerissen von der Lust, die Menschen als Künstler zu erfreuen – oder sie als Barrikadenkämpfer mit sozialrevolutionärem Tun zu beglücken. Auf der Bremer Bühne wird Tannhäuser per Steckbrief gesucht – wie 1849 auch Wagner, nachdem er beim Dresdner Maiaufstand mitrevoluzzert hatte.
Das mit der Kunstausübung ist im kapitalistischen Verwertungszusammenhang aber auch so eine Sache. Der Sängerwettstreit verkommt zur Werbeveranstaltung eines Sponsors, der bei Wagner noch Landgraf von Thüringen war, „der holden Kunst Beschützer“. Darüber empört sich Tannhäuser genauso wie über seine Kollegen, die sich dem Geldgeber und dem Massengeschmack anbiedern. Nichts Neues unter dem DSDS-Himmel. Unser Heldentenor bringt sich jedenfalls um alle Superstar-Chancen, singt statt wie gefordert von Liebe nur von Sex, wird vom Establishment fast gelyncht und muss zur Buße nach Rom. Der Papst verweigert Vergebung, alles endet auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Deutschland im Herbst, „Dämmrung deckt die Lande“, GSG-9-Jungs schleichen heran, erschießen Venus und Elisabeth, Tannhäuser wird lebend festgenommen und wohl nach Stammheim entsorgt.
Die christliche Gnadenwalze, die nun textlich alles unter sich begräbt, ist keine Erlösung, die sich auf Jenseitigkeit bezieht, sondern höchstens auf eine Sehnsucht danach. „Die jüngeren Pilger“ sind daher am Ende das Spaßguerilla-Kommando Tannhäuser, das den „Anbruch einer neuen Zeit“ verkündet – wie Kratzer ins Programmheft schreibt und das auch so ernsthaft wie ironisch als Happy End inszeniert: Alle werden entwaffnet zum friedlichen Miteinander. Lächerlich, klar. Aber nur so wird deutlich, dass die Widersprüche des „Tannhäuser“ zum Finale eben nicht ausgeräumt, sondern alle Fragen weiterhin offen sind. Kunst oder Widerstand – oder geht beides gleichzeitig auf der Theaterbühne? Das Publikum meinte Ja und Nein, buhte und jubelte. Der Kritiker meint: Ein stimmiges Konzept, das die Musik und Wagners Intentionen nicht vergewaltigt, sondern mit erfrischender Selbstverständlichkeit eine mögliche Lesart anbietet. Diese entwickelt Kratzer klar, präzise und konsequent sowie mit Schauspiel-typischer Eloquenz, formt zudem fast alle Figuren zu psychologisch nachvollziehbaren Charakteren. Eine brillante Inszenierung, bei der glatt vergessen werden kann, dass Markus Poschner mit nie vernebelnder Überwältigungsabsicht musizieren ließ und großenteils sehr ansprechend gesungen wurde.