Foto: "Unsere Zeit" am Residenztheater © Birgit Hupfeld
Text:Anne Fritsch, am 20. September 2021
Der Anfang ist so leicht und gut gelaunt, dass man ahnen muss: So kann das nicht sechs Stunden weiter gehen. Denn an die sechs Stunden dauert er, der dreiteilige Abend, den Simon Stone zur Saisoneröffnung am Münchner Residenztheater geschrieben und inszeniert hat. Eigentlich hätte der Regisseur bereits die Intendanz von Andreas Beck vor zwei Jahren einleiten sollen, dann kamen ein Netflix-Film-Angebot dazwischen und Corona. Drum also erst jetzt seine Premiere am Haus. „Unsere Zeit“ heißt die Inszenierung, die „frei nach Motiven von Ödön von Horváth“ abläuft und sich im Titel an dessen Roman „Ein Kind unserer Zeit“ orientiert. Sehr frei: hie und da blitzt im Dialog ein Satz aus einem Horváth-Stück auf oder der Name einer Figur aus seinem Kosmos. Ansonsten ist das hier keine Überschreibung eines Stückes, sondern vielmehr die Überführung eines Blickwinkels ins Heute. Wie Horváth schaut Stone auf die, die Horváth „Kleinbürgertum“ nannte und die heute eben an Tankstellen, bei Paketauslieferern, Amazon oder Lieferando arbeiten. Worte wie Mindestlohn und prekäre Arbeitsbedingungen fallen hier nicht, sie ergeben sich vielmehr aus den Dialogen der Figuren.
Am Anfang aber ist davon noch nichts zu spüren: Tankstellen-Manager Konrad lernt die Neue, Ulli, ein, erklärt ihr, wann die Lieferungen kommen und wo der Notfall-Knopf ist. Er redet schnell und viel, lockerer Alltagston, flirtender Unterton. Die Dialoge aus dem Innenraum werden per Mikroports übertragen. An D’Huys hat das Ensemble in Alltagsklamotten oder Firmenkleidung gesteckt; Blanca Añón hat eine Tankstelle mit allem Pipapo auf die Bühne gebaut: DHL-Station, Segafredo-Automat, Regale voll mit Chips, Kellogg’s, Barilla-Pasta und Mirácoli. Im Hintergrund leuchten die Logos von Obi und MacDonalds. Eine überwältigende Vielfalt an Marken, willkommen in den Untiefen des Kapitalismus. Später, in der Corona-Zeit, werden die Regale vor allem mit Klopapier befüllt sein. Ja, hier liebt man das Detail. Zwei Bildschirme links und rechts der Bühne übertragen die Bilder der Überwachungskameras samt Datums- und Uhrzeitanzeige. Im Fernsehen hört man Merkel sagen: „Wir schaffen das.“ Man weiß also immer ganz genau, wo man gerade ist. Theater in Echtzeit. Von Sommer 2015 bis 2021. Eine Art fiktives Dokumentartheater.
Denn so hyperrealistisch wie das Bühnenbild ist auch die Inszenierung. „Es ist halt so ein Ort“, erklärt Konrad einmal. „Zwischen einer Autobahn und einer Siedlung. Am Stadtrand, nicht weit genug weg von der Zivilisation, aber auch nicht nah genug dran. A bunter Haufen.“ Stone zoomt rein in diesen Mikrokosmos Tankstelle, diesen Ort der Begegnungen, an dem Fremde einander ihre Leben erzählen. Und manchmal Freunde werden. So eine Tankstelle hat immer offen, sie bietet eine Zuflucht, aber keinerlei Intimität. Was hier passiert, passiert öffentlich, unter den Augen aller. Im Hintergrund läuft immer, rund um die Uhr, wie ein Stummfilm der Tankstellen-Alltag weiter, da wird eingeräumt, gewischt und der Tresen abgeräumt. Georg Ringsgwandl hat in den Neunziger Jahren eine Oper mit dem Titel „Die Tankstelle der Verdammten“ geschrieben: „Kneipe und Lebensmittelpunkt für ein paar Typen, denen es immer irgendwo nass reingeht“, beschreibt Ringsgwandl diesen Ort – und das passt durchaus auch hier. Da ist Peter, den Konrad alltagsrassistisch konsequent Pedro nennt: Für ihn ist die Tankstelle nur eine Station, die der Finanzierung seines Studiums dient. Da ist Massimo, der „depperte Italiener“, der an diesem Ort alles verloren hat und seitdem draußen herumschleicht. Da ist der abgehalfterte Polizist Stanislaw, der sein Geld nicht nur als Beamter verdient; der aus dem Irak geflohene Jura-Professor, der in der Tankstelle Unterschlupf und später Arbeit findet; die Sozialarbeiterin Ruth, die selbst so einiges an unschönen Erlebnissen mit sich rumschleppt, und viele andere. Man begleitet diese Figuren dann durch die Szenen und Jahre, sieht einige aufsteigen und andere absteigen. Stone springt nach einer Szene Monate weiter, um dann wieder hineinzuzoomen in die Leben der anderen. Fast immer ist es nach Mitternacht, als sie hier eintrudeln, die Verlorenen und Heimatlosen. Der vorgetäuschte und genaue Blick in die Wirklichkeit hält die Spannung mühelos, was am fantastischen Spiel des großen Ensembles liegt.
Jeder der drei Teile hat in etwa Spielfilmlänge. Im dritten verabschiedet sich Stone von der Dramaturgie der Echtzeit. Er setzt 2021 wieder ein mit der Handlung, fast zwei Jahre sind vergangen. Die Figuren sind traumatisiert von einem Terrorakt, Corona hat die Vereinzelung auf die Spitze getrieben, vielversprechende Anfänge zunichte gemacht. Die Tankstelle ist auf der Bühne nach hinten gefahren, die Figuren begegnen sich im Vordergrund im Schneetreiben. In Rückblenden und auf einmal sehr artifiziell berichten nun alle von ihren Traumata. Und das sind – neben dem Terrorakt – noch viele. Es ist, als wolle Stone nun noch irgendwie alles reinbringen, was möglich ist an Schrecken: Völkermord in Ruanda, Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer, tödliche Unfälle, toxische Beziehungen, Me-Too-Erlebnisse, der Tod des eigenen Kindes, das Scheitern des Westens in Afghanistan… „Manchmal tut es gut zu hören, dass das Leben anderer noch beschissener ist als das eigene“, sagt Thea. Und irgendwie wirkt dieser letzte Teil wie ein Wettbewerb der beschissenen Leben. Die Konzentration und Spannung der ersten beiden Teile ist dahin, der Abend franst aus. Es wird zu viel des Guten beziehungsweise des Schlechten, irgendwie auch unglaubwürdig, diese unnötige Ballung der Schicksale.
Und doch: im Großen und Ganzen funktioniert diese Übertragung eines Horváthschen Blicks auf unsere Gesellschaft gut. Stone schafft ein Panorama der Gegenwart und ihrer Phänomene, unter einer scheinbar geordneten Oberfläche brodelt es auch hier. Hass und Gewalt brechen in der Sprache, zunehmend aber auch in den Handlungen durch. Wo bei Horváth im Grunde nie eine wirkliche Hoffnung auf Besserung der Lage besteht, scheint es hier allerdings durchaus Aufstiegsmöglichkeiten zu geben. Zeitweise sieht es so aus, als ließen sich die Verhältnisse mit Verstand, Fleiß und Willen umkehren. Doch spätestens Corona macht unzweifelhaft sichtbar: Niemand ist gefeit vor dem Absturz, diese Zeiten, die unübersehbar „unsere“ sind, sind vor allem eines – unsicher.