Fabienne-Deniz Hammer, Mouataz Alshaltouh und Lukas Beeler befinden sich innerhalb eines Holzkastens, lehnen sich aus dessen Fenster und diskutieren miteinander.

Ein Sprachrauschen

Tanju Girişken: Null Zucker

Theater:Theater Dortmund, Premiere:17.01.2025Regie:Tanju Girişken

Mit „Null Zucker“ inszeniert Regisseur Tanju Girişken am Schauspiel Dortmund den Alltag einer diversen Gesellschaft, die durch unterschiedliche Sprachen ihre Lebensrealität schafft. Gemeinsam mit dem Ensemble zeigt er, wie Sprache Barrieren und Brücken bauen kann.

Sukzessiv oder simultan bilingual, das ist hier die Frage. Mehrsprachig sind sie alle drei groß geworden, aufgewachsen in einem Vokabelheft – „manche Begriffe haben keine Übersetzung in der anderen Sprache, dann bleibt eine Spalte frei“. Fabienne-Deniz, Lukas und Mouataz, die auf der Studiobühne des Schauspiel Dortmund ihre Realnamen tragen, führen heitere WG-Talks über Hummus, Käse und Vornamen und erhellend-bittere Monologe über ihre Erfahrungen mit der deutschen und anderen Sprachen. Und sie sprechen direkt ins Publikum: „Und jetzt sitzt ihr hier und hört mir zu, denn es hat funktioniert. Es hat funktioniert, eure präzisen Termini derartig zu internalisieren, so sehr, dass ich dachte, ihr hört mir zu, meiner Verbosität, meiner akzentfreien Explikation, die ich mir Tag für Tag – jahrelang – aneignen musste“, erzählt zum Beispiel Mouataz. Wochenlang habe er zuhause geübt, Listen gemacht, Kassenbons, Packungsbeilagen und Bücher gelesen. Nur um endlich zum „Wir“ dazuzugehören. Sprache als Barriere, Sprache als Schlüssel.

Sprachrealitäten

Der Regisseur Tanju Girişken ist selbst mit mehreren Sprachen in Izmir aufgewachsen, mit Türkisch, beeinflusst von bulgarischen und slawischen Sprachen, weil seine Familie aus Bulgarien stammt. 2017 zog er nach Berlin, spielte am Maxim Gorki Theater. Nun inszeniert er in Deutschland in einer Fremdsprache. Mit ihm und den anderen schauen wir auf einen Alltag für viele, der aber selten so hörbar ist. Im Saal gibt’s dann auch gleich mal eine Umfrage: Mit welcher Serie seid ihr aufgewachsen: Lindenstraße oder Ikinci Bahar? Wer fühlt sich in einer anderen Sprache als der Muttersprache mehr zuhause? Die Stimmung im Publikum ist prima, viele strahlen. Das Wort „Zucker“ kann in gleich mehrere Muttersprachen übersetzt werden.

Regie und Dramaturgie haben sich für eine Art Sendungsformat entschieden bei dieser Stückentwicklung. Ein Sprachrauschen wie im Radio. Wie im Radio der 1960er Jahre, das für viele Gastarbeiter*innen damals die einzige Möglichkeit war, Informationen aus der Heimat zu bekommen. So beleuchten sie verschiedene Aspekte, switchen vom Schweizer Schauspieler (Lukas Beeler), der sich vom „Sprachgott“ im Theater anhören muss, er „schmecke die deutsche Sprache nicht“, zum Kleist-Kenner Mouataz: „Wenn ich Kleist spiele, denke ich auf Arabisch, sage den Text aber auf Deutsch. Mein Körper fühlt beides, alles.“ Und zu Fabienne-Deniz, die sich fragt, ob sie in der türkischen Sprache mehr existieren könne, weil die genderlos funktioniere, weil sie als Frau in der deutschen Sprache keine Rolle spiele. Ihr fehlt der Raum.

Geschützter Diskussionsraum

Einen kleinen Raum hat Ausstatterin Lisa Chiara Kohler auf die Bühne gebracht. Eine rollende Holzbox, einen sicheren Mini-Sprachraum, aus dem Videos nach außen projiziert werden. Und dem Fabienne-Deniz Hammer die Fensterklappen aufreißt, wütend, hilflos, um sich mehr Raum zu verschaffen. Die Schauspieler*innen schalten genauso fix um, wie der Sender im Radio verstellt ist, wechseln von der charmanten Moderation zum enttäuschten Sinnieren, vom Schwärmen zur Frustrede. Mouataz Alshaltouh, neu im Dortmunder Ensemble und hier in seiner ersten Inszenierung zu sehen, gibt den gutgelaunten Entertainer, dessen große Geste demonstriert, wie er Sprache auch körperlich fühlt.

Im Ohr bleibt dieses Sprachrauschen, manchmal etwas holprig und wirr, aber sympathisch inszeniert. Sehens-, und vor allem hörenswert. Und die drei sind nicht die einzigen, die zu Wort kommen. Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar zum Beispiel wird zitiert, die, „echt krass“, „einfach mal so 700 Seiten in einer Fremdsprache schreibt“. Eingespielte O-Töne gibt es von drei Dortmunder Frauen (Elif Demirhan, Gülüzar Doğan und Ayşe Gül Kılıç), die wie Elif Demirhan zum Beispiel erzählen, dass Deutsch für sie eine Sprache des Widerstands und der Befreiung geworden ist. Eine Sprache des Verstandes und der klaren Entscheidung. Oder wie das Thema Übersetzen zu einer Brücke zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen werden kann. Nicht weniger als so eine Brücke ist „Null Zucker“.