Foto: Elisa Badenes und Friedemann Vogel in der Stuttgarter Neuauflage von Kenneth MacMillans Ballett "Mayerling" © Stuttgarter Ballett
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 12. April 2020
In der Hochzeitsnacht schockiert der Bräutigam seine Angetraute mit einem Totenschädel und einer Pistole, bevor er sie im schwarzen Ehebett vergewaltigt: Prinz Rudolf, Sohn von Kaiserin Sissi und Kaiser Franz Joseph I., schikaniert gern seine ungeliebte Gattin. Schon kurz zuvor hatte er auf der Feier zur arrangierten Heirat ungeniert mit deren Schwester geflirtet… Kenneth MacMillans Handlungsballett „Mayerling“ erzählt aus dem spektakulären Leben des österreichisch-ungarischen Thronfolgers: vom wenig warmherzigen Verhältnis zu seinen Eltern, von der Karriere als Frauenheld und schließlich vom Abstieg zum morphiumsüchtigen, an Syphilis erkrankten Alkoholiker. Erstaunlich ist, dass das choreographische Meisterwerk von 1978 im vergangenen Jahr erstmals mit einer deutschen Company einstudiert wurde: vom Stuttgarter Ballett, das den Abend nun als Stream zeigt. Neu indes ist die Ausstattung, für die der renommierte Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose gewonnen werden konnte.
Der Prolog des zweieinhalbstündigen Balletts nimmt das Ende vorweg: Rudolf erschoss 1889, dem Wahnsinn krankheitsbedingt recht nah, erst seine 17-jährige Geliebte Mary Vetsera, bevor er sich selbst das Leben nahm. Ort des einvernehmlichen Sterbens war das Jagdschloss Mayerling, das dem Ballett den Titel gibt. Die einleitende düstere Friedhofsszene ist – ebenso wie ihre Entsprechung als Epilog – recht unscharf gestreamt, was nicht verwundert, fängt das Lichtkonzept doch die Stimmung einer Beerdigung zur Morgendämmerung ein. Der große Rest funktioniert am Bildschirm sehr gut, mit Ausnahme von wenigen Kameraschwenks, die durch ein zu rasches Tempo Unschärfen provozieren.
Der Erste Solist Friedemann Vogel verwandelt sich souverän als Kronprinz Rudolf vom unglücklichen jungen Mann in einen boshaften Gatten, wechselt souverän zwischen selbstbewusstem Womanizer und Sympathisant der ungarischen Separatisten. Auch die zunehmende mentale Verwirrung gelingt dem technisch wie darstellerisch großartigen Tänzer überzeugend und berührend. In bestimmten Momenten gelingt dank Zoom, was dem Publikum im Zuschauerraum immer verwehrt bleiben wird: sein differenziert leidendes Gesicht in Großaufnahme zu erleben. Was hier ein Glücksfall ist, ist in einem anderen Beispiel entlarvend: In der Nahaufnahme zeigt die Mimik seiner Gattin weniger die Panik vor der brutalen Behandlung durch den Angetrauten, als vielmehr die Angst vor der nächsten technischen Schwierigkeit – und damit den Verlust der Rolle. Wunderbar hingegen ist das Wiedersehen mit Egon Madsen als Kaiser Franz Joseph I., der es versteht, selbst durch kleine Gesten Charisma auszustrahlen. Auch Marcia Haydée und Georgette Tsinguirides kehren in kleinen Rollen zu diesem Anlass auf die Bühne zurück, deren Geschicke sie so lange gestalteten.
Die beiden Ersten Solistinnen Alicia Amatriain und Elisa Badenes verkörpern ihre jeweiligen historischen Persönlichkeiten als (Ex-)Geliebte des Prinzen nuanciert und facettenreich, auch dank der differenzierten Sprache des Choreographen: Untypisch unmärchenhaft, scheute sich MacMillan nicht vor eindeutig sexualisierten, mitunter erotischen und gewalttätigen Gesten, ohne ein Weltklasse-Niveau je aufzugeben. Wunderbar, dass man auf diese Weise – wenn auch nur 24 Stunden kurz – „Mayerling“ auch jenseits von Stuttgart sehen konnte.
Online bis 12.04.2020 um 18 Uhr.