Foto: Dystopische Szenerie: "Corpus Delicti" an der Schauburg München. © Judith Buss
Text:Manfred Jahnke, am 11. Januar 2020
Juli Zeh, ebenso erfolgreich als Juristin wie als Schriftstellerin, führt in „Corpus delicti“ den Zuschauer in das Jahr 2057. Der Text ist 2007 als Theatertext entstanden, 2009 dann auch in einer Romanversion erschienen: Da hat es die „Methode“ geschafft, die Krankheit aus der Welt zu verbannen, teuer erkauft mit der totalen Kontrolle der Personen, auch so etwas wie Liebe ist ausgeschaltet: Der Mensch ist nur noch ein funktionierender Körper, eine Maschine ohne Gefühle, auch ohne Beziehung zur Natur. Ein solches System bezieht seine Stärke aus seiner Unfehlbarkeit, Fehler sind a priori ausgeschlossen. Wer sich gegen die „Methode“ stellt, wird mit der Höchststrafe bedroht, dem Einfrieren auf unbestimmte Zeit.
Sowohl im Theatertext wie im Roman entwickelt Zeh die Geschichte von Mia Holl personenreich als Abfolge von Gerichtsprozessen und als Biographie einer Angepassten, die durch äußere Umstände und auch zunächst wider den eigenen Willen zur Regimegegnerin wird. Ihr Bruder Moritz wird mit der Anklage festgesetzt, ein Mädchen, mit dem er verabredet war, getötet zu haben. Man hat seine DNA an der Leiche gefunden. Obwohl er seine Unschuld beteuert, wird er verurteilt, er erhängt sich in der Haft. Auch Mia glaubt fest an seine Unschuld. Aus Kummer vernachlässigt sie sich, wird damit selbst zum Fall für die Justiz. Sie, die als Naturwissenschaftlerin fest an den Rationalismus der Methode geglaubt hat, beginnt zu zweifeln. Zeh spitzt das auf den Dualismus zwischen Mia und Kramer, dem fanatischen Vertreter der „Methode“, zu, der alle ihre Aussagen benutzt, um diese so zu konstruieren, dass Moritz und sie in den Augen der Öffentlichkeit als Verschwörer verurteilt werden können.
Was Zeh entwickelt, ist eine komplexe, weitgehend epische Geschichte, die alle Konsequenzen eines totalitären Staates vorführt als große Auseinandersetzung zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Zwang des Kollektivs. In ihrer Inszenierung an der Münchener Schauburg konzentriert die Regie von Ulrike Günther „Corpus delicti“ auf diese Frage und verteilt hierzu den komplexen Stoff auf fünf Personen. Sie schärft damit den politischen „Bildungs“-Prozess der Mia, vor allen Dingen im ständigen Dialog mit der „idealen Geliebten“, die Moritz ihr vererbt hat. Mia erscheint zunächst als Getriebene, bis sie endlich begriffen hat, nur für sich selbst zu handeln und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Zum anderen deutet die Konzentration auf die Beziehung von Mia und Kramer eine eher von persönlichen Gemengelagen bestimmte als denn genuin politische Auseinandersetzung an.
Während bei Zeh die Handlung gerahmt wird durch den Urteilsspruch gegen Mia, entwickelt Günther eine andere Rahmung. Am Anfang trägt Nele Sommer als „ideale“ Liebhaberin einen Song von Johnny Cash vor, am Ende einen weiteren Song (Pete Seeger?), gesungen von Mia und der „idealen“, auch dazwischen gibt es eher Musik aus der 1960ern (Musik: Christian Decker). Der Schwerpunkt der Inszenierung liegt auf den Figurenbeziehungen und der Rhetorik der Figuren. Dabei erscheint Lucia Schierenbeck als Mia Holl gar nicht als Rationalistin. Vor dem Vorhang liegt sie eingekuschelt in Bettlaken, drumherum lauter Plastikmüll von Fertiggerichten. Nur mühsam gelingt es Nele Sommer, sie aus ihrer „Trauer“ herauszuholen. Aber auch sonst spielt Schierenbeck ihre Rolle gefühlsbetont, Schreien, Lachen, Kichern sind ihre Reaktionsweisen auf die Anklagen. Rational hingegen, wenn sie auch manchmal mit Mia über und hinter der Bühne herumjagt, agiert Nele Sommer: In diesem Spiel ist sie die eigentliche Rationalistin, die Mia zu ihren Einsichten und Handeln führt. Daneben übernimmt sie am Anfang auch noch die Rolle der Erzählerin, erst im Verlaufe der Handlung wird ihre eigentliche Rolle als „ideale Geliebte“ deutlich.
Janosch Fries spielt den Kramer mit einer beeindruckenden Rhetorik. Wenn er im Publikum agiert und dieses davon zu überzeugen versucht, welche Verantwortung der Einzelne für das Kollektiv hat, hat das fast dämonische Qualität. Er lässt das Publikum fühlen, dass da etwas mit der Logik nicht stimmt, aber zugleich sind seine Argumente so, dass man sie im Augenblick nicht widerlegen kann. Auch sonst spielt er den aalglatten Politiker, der nicht zu greifen ist. Auf Berührungen mit Mia lässt er sich nicht ein. Er agiert aus der Position desjenigen, der immer Recht hat und entsprechend die Tatsachen manipuliert. Was ihn wirklich an Mia interessiert, lässt er sich nicht anmerken. Mit den beiden Dialogzentren – Mia und die „ideale Geliebte“ sowie Mia und Kramer – haben es Julia Schmalbrock als Richterin Sophie und David Benito Garcia als Anwalt schwer. Auch, weil zwar die prozessualen Aspekte der Vorlagen auch hier virulent sind, aber gegenüber den personalen Konflikten zwischen Mia, „idealer Geliebter“ und Kramer nur als Verstärker wirken. Der Anwalt deckt schließlich auf, dass Moritz tatsächlich unschuldig ist, und zieht damit das Dogma der Unfehlbarkeit der „Methode“ in Zweifel.
Andreas A. Straßer hat hierfür eine einfache wie wirkungsvolle Bühne gebaut, ganz in Weißtönen gehalten. Im ersten Teil ist sie von einem hohen Richterstuhl in der Mitte beherrscht, den Julia Schmalbrock nicht verlässt, darüber groß geschrieben: „Mens sana in corpore sano“. Im zweiten Teil dominiert ein übergroßer Stuhl im Vordergrund die Szene, Kramers Stuhl. Und statt der Schrift ist nun eine große Scheibe zu sehen, die rot glüht, wenn das Licht auf sie trifft. Ob sie Sonne, ob Mond sein soll oder ob noch eine andere symbolische Bedeutung mitschwingt, ist mir nicht aufgegangen. Darüber hinaus stehen in beiden Teilen jeweils links und rechts gestaffelt zwei Kabinen. In drei von ihnen stehen Puppen, die so gekleidet sind wie Mia, wenn sie zum Einfrieren verurteilt worden sind. Aber Mia kommt nicht in die vierte, leere, sondern tollt mit der „idealen Geliebten“ singend im Vordergrund herum. Annika Lohmann hat dazu Kostüme geschaffen, die mit Glitzer, Kahlköpfen, vorgebundenen Bauchverstärkungen futuristisch wirken sollen. Videoeinblendungen übergroßer Fahndungsfotos und die Lichtregie von Sebastian Jansen schaffen atmosphärische Bilder. Starker Beifall, der etwas von der Spannung im Publikum verrät, das schließlich das eigene argumentative Versagen im Angesicht der blendenden Logik von Kramer schmerzlich zu spüren bekam.