Foto: Klingender Raum. Julia Burkhardts begehbare Bühne für Stockhausens "Originale" im kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig © B.Hickmann
Text:Andreas Berger, am 22. Juni 2018
Das Staatstheater Braunschweig präsentiert „Originale“, Karlheinz Stockhausens theatralisches Fluxus-Manifest von 1961 in frischer, heutiger Form.
Braunschweig 2018. Fluxus war gestern. Was Karlheinz Stockhausen bei der Uraufführung seiner „Originale“ 1961 noch skandalhaft der damals alleinseligmachenden tonalen Musik und namentlich der traditionellen Oper als „musikalisches Theater“ entgegenknallte, hat seinen Schrecken, wie die Neuinszenierung am Staatstheater Braunschweig zeigt, weitgehend eingebüßt. Im Zeitalter aufjaulender E-Gitarren und wilder Percussion-Soli steht man den freien, auch dissonanten Klängen Stockhausens viel offener gegenüber. Und auch die Aktionen der aus Stadt und Theater rekrutierten Originale, die teils von Laien ausgeführt werden und Geräusche vom Plattenteller (des DJs Joel Walterscheid) oder einer mit Maultrommel und Obertönen agierenden Band (Arjomi) hinzufügen, wirken heute nicht wirklich verstörend.
Die heilige Bühne ist ja längst gestürmt, die kritiklose Verehrung der Kunst längst einer nicht minder problematischen unkritisierbaren Amateurisierung der Kunst gewichen. Da muss Schiller stets aussehen wie auf der Probebühne, ergänzt um Smalltalk aus der Volksbühnenkantine. Und wo wird heute nicht gefilmt (Kamera: Paula Löffler). Der revolutionäre Gestus der „Originale“ ist daher heute schwer reproduzierbar.
Regisseur Tobias Mertke versucht dies auch nicht. Er arrangiert mit ruhiger Hand auch als handelnder Regisseur im offenen Spielfeld ein sympathisches Happening, das nur augenzwinkernd noch die Schrecken von einst zitiert. Da schmiert der längst zum legalen Sprayer mutierte Aktionsmaler Steven Haschke seine Tags auf den abwaschbaren Spiegel. Und die Maskottchen von Eintracht Braunschweig und den Lions, dem lokalen American Football Team, verteilen im Löwenkostüm Bananen wie Tierwärter im Zoo. Zwei Models transgendern political correct, und zwei Kinder bauen am 3-D-Turm aus „Big Bang Theory“. Wunderbar unzeitgemäß wandelt der Braunschweiger Dichter Georg Oswald Cott durchs Haus und rezitiert seine poetischen Apercus, ein Aufleuchten von Sinn im unterhaltsamen Chaos.
Mertke hat Braunschweiger Originale mit Aura gefunden, das macht das Stück wieder originell. Und er hat auch im Theater mit Ines Kern, Petra Hoyck, Harry Heutink und Christopher Lichtenstein Typen, die charismatisch mit ihren Funktionen verschmelzen. Vom Scheinwerferrichten bis zum Kostümwechseln entsteht so für die Zuschauer, die sich frei zwischen allem bewegen dürfen, der Eindruck vom livehaftigen Theatermachen. „Konkretes Theater“ könnte man Mertkes Ansatz analog zur konkreten Musik nennen. Theater, das meint, was es ist.
Stockhausens „Originale“ leben darüber hinaus von synästhetischen Überlagerungen. Von den Selbstzitaten rund um sein Stück „Kontakte“, das Klavier und Schlagzeug live in Kontakt bringt mit Elektronik, also Aufgezeichnetem, Verwandeltem, Wiedereingespieltem. Instrumentalmusik, die mit den oft verloren gesetzten Tönen gerade des Klaviers, den nicht melodiös geborgenen, aber im Klangwert Erinnerungen wachrufenden Sequenzen eine doch auch anrührende, melancholische Stimmung schafft. Da unterläuft Stockhausens Komposition seinen theoretischen Willen des Bruchs mit der romantischen Tradition. Adrian Heger am Klavier, Schlagzeugerin Ni Fan mit oft trotzigen Gongschlägen, wirbelndem Xylophon und harten Holztrommeln und Tontechnikerin Katharina Heine sorgen jedenfalls für interessante Klangeffekte so umfänglicher Art, dass ein Schwelgen darin möglich ist.
Am stärksten ist jene Sprechsinfonie, die sich aus den Deklamationen der Schauspieler ergibt. Eben noch musste Raphael Traub dem Regisseur Szenen unterschiedlicher Stile vorsprechen, schon mischen sich Textfragmente aus den Rezitationen der Kollegen dazu. Weil Gertrud Kohl, Saskia Petzold, Andreas Bißmeier und Klaus Meininger mit ihren Stimmen ein weites Spektrum an Tonlagen abdecken, ergibt sich daraus, hallend in alle Ecken verstärkt, ein mysteriöser Raumklang, dem man sich tatsächlich gern mit geschlossenen Augen (oder der angebotenen Schlafbrille) hingibt. Hin und wieder erreichen einen Sinnfetzen, aber alles bleibt traumhaft diffus.
Damit konstituiert sich eine Ästhetik, die auch ohne den gesellschaftskritischen oder kunstrevolutionären Anspruch von einst noch immer sinnerweiternd und sinnlichkeitsfördernd wirkt. Das Werk behauptet sich in verändertem Kontext durch seine haptische Qualität. Das Beste, was ihm, selbst gegen die Intentionen seines Schöpfers, passieren kann. Braunschweig macht Stockhausen gewissermaßen zum Klassiker und repertoiretauglich. Eine illustre Farbe namentlich im Klangfächer des von Operndirektorin Isabel Ostermann ausgerufenen Notes-Festivals für zeitgenössische Musik, das am Spielzeitende auch die weiteren zeitgenössischen Stücke des Braunschweiger Repertoires vereint: immerhin Sciarrinos „La Porta della Legge“, Cages „Europeras 1 & 2“ und Ronchettis „Rivale“. Wäre eigentlich einen Trip wert. Auch von außerhalb.