Foto: Telramund (Martin Gantner, 2.v.l.) verliert das Duell gegen Lohengrin (Roberto Alagna, in weiss). Es sehen zu (v.l.n.r.): Der Heerrufer (Adam Kutny), der König (René Pape) und der Herrenchor © Monika Rittershaus/Berliner Staatsoper
Text:Andreas Falentin, am 14. Dezember 2020
Bekanntermaßen ist „Lohengrin“ keine einfache Oper; nicht für Zuschauerinnen und Zuschauer, die das Stück gleichwohl von jeher sehr lieben; erst recht nicht für den Regisseur. Die Probleme fangen mit den fast unmöglich zu lösenden Momenten im ersten Akt („Auftritt“ des Schwans, Duell) erst an und sind mit den langen szenischen Blöcken in den Folgeakten bis hin zum Brautgemach noch nicht vorbei. Wie kann man in diesen, zumindest auf den ersten Blick, statischen, langwierigen Tableaus die Dynamik und Delikatesse der Musik hörbar oder gar szenisch produktiv machen?
Calixto Bieito verfolgt bei seiner Inszenierung an der Berliner Staatsoper eine Art Doppelstrategie: Klare, handwerklich sichere Erzählung von Handlung und Figuren einerseits, Anreicherung und Verrätselung mit explizit aufgesetzter Symbolik andererseits. Diese bieten mal eine scheinbar eindeutige Deutung an, öffnen mal gleichzeitig mehrere Assoziationsräume und lassen auch mal ratlos zurück.
Zu Beginn etwa, während des Vorspiels wird uns per Video erst ein Frauenbauch gezeigt, der einen Schwan enthält, dann begleiten wir ein ertrinkendes Kind. Die Bühne von Rebecca Ringst ist eine kühl-schicke Mischung aus Hör- und Sitzungssaal, dominiert von einem großen weißen Käfig und etlichen orangenen, etwa 30 cm langen Modellsportwagen, mit denen Ortrud, Telramund und der Herrenchor hingebungsvoll gelangweilt herumspielen. Ist das die Wirtschaftsmacht (heutige Garderobe: Ingo Kügler), die sich gegen die Politik in Stellung bringt? Die wird eindeutig durch den König vertreten. René Pape in Abendkleidung singt wunderbar geschmeidig, artikuliert wunderbar klar – und hat einen Kranken zu spielen. Dieser Heinrich leidet unter Stresssymptomen, verträgt die Machtausübung nicht oder hat schlicht Parkinson. Womit – leicht wie eine Feder – auch Adolf Hitler den Assoziationsraum betritt. Dazu ist der Heerrufer eine maliziöse Witzpille im leuchtend blauen Dreiteiler. Später wird Adam Kutny (stimmlich kraftvoll, mit leichten Unsicherheiten zu Beginn) sich in den „Joker“ verwandeln, der ja zur Zeit Konjunktur hat auf den Stream-Bühnen, destruktiv mit der Hochzeitstorte herumspielen und den Chor anstiften, sich auch die Gesichter zu weißen. Ankunft Schwan: Elsa fällt zu Boden, der Chor benimmt sich, als habe er eine Göttererscheinung oder einen kollektiven Drogenrausch. Plötzlich sitzt Lohengrin im weißen Anzug am Konferenztisch, auf den Knien einen winzigen Origami-Schwan. Ist alles ein Traum von Elsa?
Die Verwirrung ist groß. Bis Roberto Alagna zu singen anfängt. Schnell ist klar: Diese Figur sitzt. Der abwesende, immer etwas irritierte Blick, die immer spontan wirkende Emphase, sogar die zu hörende Überforderung in der äußersten Expansion: Hier haben wir wirklich einen Sohn Parsifals vor uns, sozusagen einen reinen Toren 2.0, angereichert mit bürgerlichem Selbst- und Traditionsbewusstsein, beglaubigt mit bronzenem, flüssigem Klangstrom (Gralserzählung!) und eleganten, selbstverständlichen Piani. Wobei die Abmischung der Stimme die Ahnung beim Hörer erzeugt, als habe der Toningenieur bei der Balance mit dem Orchester etwas geholfen. Die Staatskapelle musiziert unter Matthias Pintscher so schlank, sehnig und dynamisch, als hätte man seine Stärke coronabedingt reduziert. Was bei diesem leuchtenden Ergebnis locker zu verkraften wäre. Weil traumwandlerisch sicher musiziert wird und Pintscher die Klangebenen souverän übereinander schichtet dabei immer transparent bleibt. Vor allem hören wir hier nicht das berühmte „Kunstwerk in Silber und Blau“, es wird auch kein romantisches Meisterwerk zelebriert, sondern wir erleben schlicht – Theatermusik. Was auch für den teils rätselhaft wild (Blutfarbe auf die nackten Oberkörper der Herren vor dem Duell), teils unangenehm konventionell inszenierten, musikalisch extrem verlässlichen Chor gilt.
Wie bei der „Lohengrin“-Figur finden sich immer wieder Momente und Beziehungen im Symbol-Wirrwarr, die überzeugen, die richtig wirken. Für das Duell etwa wird eine Talkshow-Situation geschaffen, fast wie eine TV-Battle vor einer Wahl und Telramund (souverän, prägnant, mit überraschend hellem Bariton: Martin Gantner) hält schon den Beginn der Konfrontation nicht aus. Aber warum kommt dann am Aktende der König nach vorne und lässt die Wahlurne zu Boden fallen und zerbrechen? Trump oder was? Ist er nicht für „Lohengrin“? Und hat der nicht gewonnen? Hat also die Wahl vor seinem Erscheinen stattgefunden? Solche Fragen interessieren Calixto Bieto nur insofern, als sie Rahmen für seine Bilder abgeben.
Das gilt auch für den Beginn von Akt zwei. Da ist das einzige Gepäck des verbannten Telramund ein klitzekleines Zimmerpflänzchen, das er später im Brautgemach, statt sich erschlagen zu lassen, wie ein Geist vor Elsa und Lohengrin ablegen wird. Ortrud hingegen hat alte, beschädigte Puppen um sich, deren eine sie mit einer Blondhaarbrücke verziert. Mittel der Zauberei? Schlimme Kindheit? Sadismus-Psychose? Wieder keine Antworten. Eigentlich ist die Ortrud hier die klarste Figur. Sie plant und handelt danach. Auch singend wählt Ekaterina Gubanova den geraden Weg, musikalisch attraktiv, da selten schrill, und bemerkenswert textverständlich.
Bleibt die große Leerstelle im Zentrum: Elsa. Blond ist sie, am Anfang mit Lederjacke, dann bedeckt vom riesigen Brautschleier und im Hochzeitskleid, am Ende im einfachen, dunklen Gewand. Warum sie tut, was sie tut, erfahren wir nicht genau. Wir wissen nur: Alles ist spontan. Und erotische Träume spielen eine Rolle, manchmal überlagern sie vielleicht sogar bildlich das Geschehen. Vielleicht aber auch nicht. Schauspielerisch großartig zeigt Vida Mikneviciuté ihre Extremsituation im Brautgemach. Da sitzen die zwei auf der Wiese mit dem weißen Sofa, also auf dem zivilisatorisch entweihten Locus amoenus und Lohengrin zuppelt gemütvoll am Brautschleier herum und reißt ihn schließlich in Streifen – wieder eine Symbolhandlung, diesmal sehr einfach zu dechiffrieren. So ist Elsa auch hier das, was sie immer ist: Objekt und allein. Vida Mikneviciuté beglaubigt das mit leidenschaftlichem Gesang. Hier geht es in jedem Moment um alles. Ihr dunkel glühendes Timbre ist eine Ohrenpracht, auch wenn das anerkennenswerte Ringen um Wortdeutlichkeit an wenigen Stellen den Fluss hemmt und das rasende Vibrato im hohen Register leicht irritiert.
Fazit: Ein respektabler „Lohengrin“ auf sehr hohem musikalischen Niveau, szenisch zumindest streitbar, hier und da vielleicht ein wenig hingerotzt – und solide gefilmt. Eine Begegnung vor leibhaftigem Publikum ist dieser Produktion unbedingt zu wünschen.
Die nächsten 30 Tage ist der Stream in der Arte-Mediathek verfügbar.